Geschichte Hessens
singuläre Stellung unter den zeitgenössischen deutschen Fürstenstaaten verschaffte.
Verantwortlich für diesen kulturellen Aufstieg Hessen-Kassels waren die beiden nacheinander regierenden Landgrafen Wilhelm IV. (1523–1592) und Moritz (1572–1632). Wilhelm IV., Sohn Philipps des Großmütigen, erwies sich nicht nur, wie schon sein Vater, als bedeutender Reorganisator des Bildungswesens, sondern auch als glanzvoller Renaissance-Herrscher. Kassel formte er zu einer städtebaulich und architektonisch gleichermaßen strahlenden Residenz und machte aus der Stadt einen Anziehungspunkt für Künstler und Gelehrte aus ganz Europa. Den Beinamen «der Weise» erwarb sich Wilhelm IV. hauptsächlich durch seine astronomischen und physikalischen Interessen. Mit vergleichbarer Leidenschaft widmete sich Wilhelms Sohn und Nachfolger, Landgraf Moritz («der Gelehrte») der Kunst- und Wissenschaftsförderung in seinem Land. Er selbst besaß hohe musische und geistige Begabungen, dichtete, komponierte und konnte sich in sieben Sprachen fließend verständigen. Der erste deutsche Komponist von Weltrang, Heinrich Schütz (1585–1672), erfuhr seine Ausbildung am Kasseler Hof, von wo ihn Moritz zum Studium nach Venedig schickte. Auch als Alchimist, Architekt und Erfinder war der kunst- und bildungsbegeisterte Landgraf aktiv. 1605 ließ er in Kassel das «Ottoneum» errichten, den ersten festen Theaterbau Deutschlands, in dem er eine englische Schauspielertruppe unterhielt. Seine vielseitigen Bildungsinteressen kontrastierten allerdings mit einer totalen Verständnislosigkeit für die Belange der politischen Wirklichkeit. Hier führte Moritz als kompromißloser Verfechter des calvinistischen Bekenntnisses sein Land in den militärischen und finanziellen Zusammenbruch. Seine Abdankung 1627 markierte einen Tiefpunkt in der politischen Geschichte Hessens.
3. Absolutismus und Aufklärung
Calvinismus in Nassau
. Die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges, die dem kunstbeflissenen Landgrafen Moritz zum Verhängnis geworden ist, traf das Land auch deshalb mit besonderer Wucht, weil Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel wegen territorialer Streitigkeiten und konfessionellen Haders aneinandergerieten. Der Kasseler Hof war, wie bereits erwähnt, calvinistisch geworden, und auch die meisten nassauischen Territorien hatten sich der Lehre des Genfer Reformators sukzessive angeschlossen. Das Haus Nassau, dessen ottonische Linie im 15. Jahrhundert durch Heirat Gebiete in den Niederlanden und 1530 die südfranzösische Grafschaft Orange (bis 1713) erworben hatte, erlangte infolge seines europäischen Engagements für den Calvinismus zeitweise eine herausragende Stellung im hessischen Raum. Wilhelm («der Schweiger»), seit 1544 Fürst von Oranien (1533–1584, ermordet), war 1573 zum calvinistischen Glauben übergetreten und übernahm – unterstützt von seinem Bruder Graf Johann VI. von Nassau-Dillenburg (1536–1606) – die Führung des niederländischen Freiheitskampfes gegen die spanische Fremdherrschaft, ab 1559 auch offiziell als Statthalter der Provinzen Holland, Seeland und Utrecht. Wilhelm wurde zum Ahnherrn der bis heute im Königreich der Niederlande regierenden Dynastie Oranien-Nassau. Nicht weniger als zehn nassauische Grafen fielen im Lauf des 80jährigen Kampfes (bis 1648) der nördlichen Niederlande gegen die imperialen Gelüste der katholischen spanischen Habsburger. Auch auf intellektuellem Gebiet entfalteten die Nassauer damals beachtliche Aktivität. Als zweite Hochschule auf hessischem Boden gründete Johann VI. (noch vor der hessen-darmstädtischen Landesuniversität Gießen, 1607) 1584 die «Seminaruniversität» in Herborn. Sie entwickelte sich in der Folgezeit zu einem Mittelpunkt des europäischen Calvinismus mit namhaften Gelehrten wie Johannes Althusius (1557–1638) und ebenso namhaften Studenten wie Johann Amos Comenius (1592–1670). Deren Ruhm überdauerte das Ansehen der Hochschule, die bis zu ihrer Auflösung 1817 vor allem der Unterrichtung lokaler Eliten diente, insbesondereder Ausbildung des Pfarrerstandes in den nassauischen Territorien.
Hessenkrieg
. Der Zwist zwischen den beiden hessischen Landgrafschaften steigerte sich unterdessen in den 1620er Jahren zu blutigen Auseinandersetzungen, dem «Hessenkrieg» als Teil des Dreißigjährigen Krieges. Das lutherische Darmstadt stand dabei auf seiten des katholischen habsburgischen Kaisers, während das calvinistische Kassel mit dem lutherischen
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