Geschichte Hessens
«Hessenplan» war freilich nur Teil einer weitaus umfassenderen Infrastrukturpolitik, mit der es der Regierung Zinn im Verlauf der 1950er und frühen 1960er Jahre gelang, dem Land – auch im bundesdeutschen Vergleich – überproportional hohe wirtschaftliche Wachstumsraten zu sichern und die Arbeitslosenquote konstant auf einem Niveau von weniger als 2 % zu halten. Hessens wirtschaftliche Entwicklung folgte in der Nachkriegszeit dem allgemeinen Trend zum raschen Wiederaufschwung. Die konjunkturelle Erholung vollzog sich derart vielversprechend, daß ab Ende der 1950er Jahre ausländische Arbeitskräfte angeworben wurden, sogenannte «Gastarbeiter», vorerst aus Italien, Spanien und Griechenland, später zunehmend aus der Türkei, aus Jugoslawien und aus Portugal. Viele dieser Arbeitsmigranten ließen sich dauerhaft in Hessen nieder. Lebten dort 1958 erst 7786 ausländische Arbeitnehmer, so waren es 1960 schon 25.000, 1962 über 69.000 und 1973, im Jahr des bundesdeutschen Anwerbestopps, etwa 450.000. Im Rahmen der damit verbundenen wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung Hessens gab es freilich eine Reihe standortbedingter Besonderheiten. Der bevölkerungsreiche Süden des Landes konnte trotz der Verwüstungen, die der alliierte Bombenkrieg dort hinterlassen hatte, seine traditionelle Rolle als führendes Wirtschaftszentrum bald zurückgewinnen. Erneut war es die Messe- und Bankenstadt Frankfurt am Main, von der maßgebliche Impulse ausgingen. Die Amerikaner hatten dort 1945 im ehemaligen Verwaltungsgebäude der I. G. Farbenindustrie das Hauptquartier für ihre Besatzungszone errichtet, inFrankfurt residierten zudem der
Wirtschaftsrat für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet
der westlichen Alliierten, die bizonalen Verwaltungen sowie (seit 1948) die
Bank deutscher Länder
(seit 1957:
Deutsche Bundesbank
). Als Finanz- und Börsenplatz unumstritten, unterlag die Mainmetropole allerdings im Rennen um die künftige Hauptstadt der Bundesrepublik, das im November 1949 vom Deutschen Bundestag zugunsten Bonns entschieden wurde. Gleichwohl blieb die Rhein-Main-Region mit ihrer Automobilindustrie (Opelwerk Rüsselsheim) und ihren Chemieunternehmen (Farbwerke Hoechst) Hessens wichtigster Wirtschaftsraum, demgegenüber der Norden des Landes, bedingt durch seine kleinteilige Wirtschaftsstruktur, seine geringere Besiedlungsdichte und seine Lage als Zonenrandgebiet, deutlich ins Hintertreffen geriet. Die gezielte Infrastrukturförderungspolitik der Hessischen Landesregierung, etwa mittels Ansiedlung des VW-Werkes Baunatal bei Kassel 1957 oder durch Subventionierung des Kalibergbaus im Werra-Fulda-Gebiet, vermochte das damit einhergehende Nord-Süd-Gefälle in den 1950er und 1960er Jahren nur partiell auszugleichen.
Ab 1957 avancierte Hessen zu einem der führenden «Geberländer» im deutschen Länderfinanzausgleich und trug über die Jahre, noch vor Bayern und Baden-Württemberg, eine Hauptlast dieses Ausgleichsfonds, übrigens bis heute. Mit dem «Großen Hessenplan» dehnte die Regierung Zinn die strukturpolitischen und landesplanerischen Zielvorgaben seit 1965 dann auf die Gesamtbevölkerung aus. Vorzeigeobjekte wurden nun die vieldiskutierten «Dorfgemeinschaftshäuser» als symbolträchtige Einrichtungen der sozialen und technischen Aufrüstung des Landlebens. Ihnen folgten die «Bürgerhäuser» in den Kommunen als Stätten sozialer Begegnung und kollektiven Gemeinschaftslebens. Sie waren Ausdruck einer höchst populären, sich spezifisch «hessisch» gebenden sozialdemokratischen Wohlfahrts- und Fürsorgepolitik unter dem zugkräftigen Wahlslogan «Hessen vorn». Diese Politik war aus der Überzeugung geboren, daß der Staat durch ordnende Eingriffe, planendes Vorausdenken und umfassende Regulierungsmechanismen die Zukunft seiner Bürger langfristig zu garantieren vermochte.
Bildung und Wissenschaft.
In der Ära Zinn stand Hessen über Jahrzehnte hinweg in dem Ruf, auch in den Bereichen von Bildung und Wissenschaft eine betont reformorientierte Politik zu betreiben. Tatsächlich beschritt man in Wiesbaden neue Wege und setzte charakteristische Akzente, hauptsächlich im Schulwesen. 1949 erließ Hessen als erstes Land der westlichen Besatzungszonen ein Gesetz zur Unterrichtsgeld- und Lehrmittelfreiheit. Jedem begabten Kind sollte – unabhängig von seiner sozialen Herkunft – der Besuch weiterführender Schulen ermöglicht werden. Später folgten die gesetzliche Einführung des Mitbestimmungsrechts der Eltern, der
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