Geschichte machen: Roman (German Edition)
schieß los.«
Ich sah ihm in die Augen. »Erzähl mir alles, was du über Adolf Hitler weißt«, sagte ich.
»Adolf Hitler?«
»Ja, was fällt dir bei dem Namen ein?«
»Adolf Hitler«, wiederholte er langsam. »Kennst du den irgendwoher?«
»Scheißegal, ob
ich
den kenne«, meine Stimme überschlug sich fast, »was weißt
du
über ihn?«
Steve überlegte, schloß einen Augenblick die dunkelblauen Augen, so daß sich die langen Wimpern trafen, dann öffnete er sie wieder, als hätte er eine Entscheidung getroffen. »Nein. Hab noch nie von dem Typen gehört. Studiert der an deinem Fachbereich? Mußt du ihn sprechen?«
»Ach du Scheiße!« keuchte ich. »Heilige Scheiße!«
Ich rannte zum Fenster und riß es weit auf.
»Leo!« schrie ich über den Campus. »Leo, egal wo du bist,wir haben es geschafft! Großer Gott, wir haben es geschafft, verdammt noch mal!«
Ich schwebte fast durch den Campus. Jedes Bild und jeder Klang kamen mir neu und makellos vor. Diese neue Welt blitzte und funkelte vor Unschuld, Hoffnung und Vollkommenheit.
Wenn ich bloß in Europa sein könnte! London, Berlin und Dresden sehen könnte, wo die Bausubstanz heil, unversehrt und unzerbombt sein mußte. Das alles war mir zu verdanken. Mein Gott, ich hatte der Menschheit einen größeren Dienst erwiesen als Churchill, Roosevelt, Gandhi, Mutter Teresa und Albert Schweitzer zusammen.
Vielleicht konnte ich Leo ausfindig machen. Ich war gespannt, was aus ihm geworden war.
Aber dieser Leo würde nicht mein Leo sein. Er war nur Leo gewesen, weil sein Vater ihn in einem anderen Leben, in einem explodierten Paralleluniversum dazu gemacht hatte. Jetzt war er … wie mußte er noch gleich heißen? Bauer! Er war Axel Bauer, Dietrich Bauers Sohn, und führte garantiert irgendwo in Deutschland ein schuldloses und sorgenfreies Leben, während der echte Zuckermann, der
nicht
mit fünf Jahren in Auschwitz vergast worden war, ebenfalls irgendwo da draußen war. Vielleicht praktizierte er in Polen als Arzt, vielleicht war er auch Musiker, Bauer, Lehrer oder – wer weiß? – ein wohlhabender Industrieller, der Tausende in Lohn und Brot hielt.
Ich fragte mich, wie ich wohl in Amerika gelandet war. Mein Vater war anscheinend nicht zur Army gegangen, sondern vor meiner Geburt mit meiner Mutter in die Vereinigten Staaten emigriert. Nun, ich würde sie besuchen und das in Erfahrung bringen. Ich durfte in dieser neuen Realität auf keinen Fall anecken. Ich war schließlich erst seit einem Tag hier und mußte noch wahnsinnig viel lernen, mich nach und nach dem Lauf dieser Welt anpassen. Die alte Welt war nur noch ein verworrenes Hirngespinst,
mein
Hirngespinst, einenie verwirklichte Möglichkeit, ein Weg, der nie eingeschlagen worden war. Stoff für einen Horrorroman.
Auschwitz, Birkenau, Treblinka, Bergen-Belsen, Ravensbrück, Buchenwald, Sobibór. Was war da heute? Polnische und deutsche Kleinstädte. Verträumte Kaffs, deren Namen mit keinerlei Schuld oder Verbrechen in Verbindung gebracht wurden.
»Haben Sie schon das zauberhafte Dorf Dachau besucht? Das sollte sich kein Deutschland-Tourist entgehen lassen. In nächster Nähe der schönen alten Stadt München. Besonders das Hotel Adler kann ich Ihnen sehr empfehlen. Und wenn Sie durch Niedersachsen oder überhaupt nach Norddeutschland reisen, dann müssen Sie außer Hannover auf jeden Fall dem Weiler Bergen-Belsen einen Besuch abstatten. Dort verbindet sich auf reizende Weise der Charme der Alten Welt mit dem Luxus der Moderne.«
Ich kicherte in mich hinein.
Mein eigenes Schicksal, mein Stranden in einer neuen Geschichte, spielte im Vergleich dazu überhaupt keine Rolle. Niemand würde mir meine angebliche Tat oder meinen teuflischen historischen Ursprung jemals abkaufen. Wie sollten sie auch?
Die Ärzte würden sich um mich scharen und über den einzigartigen Fall meiner Amnesie die Köpfe schütteln. Ein Gedächtnisverlust in Form einer
Akzentveränderung
, potz Blitz. Ein oder zwei Aufsätze in der neurologischen Fachpresse, bestenfalls ein Essay von Oliver Sacks in seiner nächsten Anekdotensammlung aus der Psychiatrie:
Der Tag, an dem der Amerikaner als Engländer aufwachte oder Ein Tommy aus der Alten Welt an eines Yankee Hof
.
Im Lauf der Zeit würde ich mir einen amerikanischen Akzent aneignen und meine hiesige Biographie erforschen. Meine Tat mußte verkannt und ruhmlos bleiben.
Ich stellte mir die Szene in Cambridge vor, in der schlechten alten Zeit.
Ein Mann quatscht mich an und sagt:
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