Geschichten von der Bibel
gegangen.
»Bete zum Gott Israels!« rief Mirjam ihm nach.
Diesen Gott kannte Moses nicht.
Moses kannte Gott nicht, aber er sah das Leid seines Volkes.
Auf seiner Wanderung kam er an einem Steinbruch vorbei. Er sah einen ägyptischen Aufseher, der so lange mit seiner Peitsche auf einen Juden einschlug, bis der Mann am Boden liegen blieb und sich nicht mehr rührte. Der Aufseher trat mit dem Stiefel gegen die Brust des Mannes. Schippte Staub über sein Gesicht. Dann ging er. Er meinte wohl, der Mann sei tot.
Moses beugte sich zu dem Mann nieder, goß Wasser über sein Gesicht, reinigte es von Schmutz und Blut. Der Mann lebte noch. Moses zog ihn in den Schatten, pflegte seine Wunden und gab ihm zu essen und zu trinken.
»Was ist geschehen«, fragte er den Mann. »Warum hat dich der Soldat geschlagen?«
»Der Soldat hat meine Frau vergewaltigt«, sagte der Mann. »Er hat mir meine Frau weggenommen. Er hat sie zu sich nach Hause geschleppt. Er sperrt sie ein, und in der Nacht zwingt er sie in sein Bett. Ich habe mich vor ihm in den Staub geworfen und ihn angefleht, er soll unserem Elend ein Ende bereiten. Da sagte er zu mir: Deinem Elend werde ich ein Ende bereiten. Und er schlug mit der Peitsche auf mich ein.«
Da stieg in Moses ein Zorn auf, wie er ihn in seinem Leben noch nie verspürt hatte.
»Geh du getrost nach Hause«, sagte er zu dem Mann. »Ich werde eurem Elend ein Ende bereiten.«
Moses suchte den Aufseher.
»Bist du der Mann, der eines Juden Frau geraubt hat, der sie zu Hause hält wie Vieh, der den Juden fast zu Tode geprügelt hat, als er um Gnade bat – bist du dieser Mann?«
Und der Aufseher antwortete ihm lächelnd: »Das weiß ich nicht. Kann sein. Es gibt viele Männer, die so etwas getan haben, was ich getan habe.«
Da bückte sich Moses, hob einen Stein auf, so groß wie der Kopf des Mannes, und erschlug ihn damit. Und verscharrte ihn im Sand.
In der Nacht weinte Moses. Er bereute. Er steckte seine Hände in den Wüstensand, damit er sie nicht ansehen mußte. Er war ein Mörder. Ich will zu Mirjams Gott beten, sagte er zu sich. Ich will zu ihm beten und ihm eine Frage stellen. Nämlich, ob es in bestimmten Ausnahmefällen erlaubt ist, einen Menschen zu töten.
Moses kniete nieder, richtete es sich bequem ein, denn es sollte ein langes Gebet werden. Aber dann zögerte er. Er erhob sich und wischte den Staub von seinem Kleid. Er betete nicht zu Mirjams Gott. Und er stellte Mirjams Gott auch keine Frage.
Wenn er mir antwortet, sagte er sich, dann ist es gut. Dann wird er zwar alles mögliche von mir verlangen, das ist zu erwarten, aber es ist gut. Ich werde mich bemühen. Was ich tun kann, werde ich tun. Mehr kann auch ein Gott nicht von mir verlangen. Aber was ist, wenn er mir nicht antwortet? Und ich glaube eher, er wird mir nicht antworten. Was dann? Dann werde ich denken, es gibt diesen Gott gar nicht. Aber wenn es diesen Gott gar nicht gibt, dann wird meine Schwester Mirjam verzweifeln. Und, angenommen, es stimmt, was sie sagt, daß die Menschen auf einen warten und nach einem rufen, der sie erlöst, und weiter angenommen, wirklich nur einmal angenommen, ich bin tatsächlich derjenige, auf den sie warten, nach dem sie schreien, dann werde ich ihnen sagen müssen: Es gibt euren Gott gar nicht. Also kann er mich auch nicht zu euch geschickt haben. Also war euer Warten vergebens und euer Schreien umsonst. Damit würde ich eine große Sünde auf mich laden, denn es ist eine Sünde, den Schwachen zu entmutigen, und diese Sünde würde schwerer wiegen als der Mord an dem Aufseher. Und ebendeshalb werde ich lieber nicht zu Mirjams Gott beten und werde ihm lieber keine Fragen stellen. So überlegte Moses in jener Nacht.
Am nächsten Tag war er wieder draußen bei dem Steinbruch. Wer weiß, dachte er, vielleicht finde ich dort ein Zeichen, das mir sagt, es gibt Mirjams Gott, dann werde ich unverzüglich zu ihm beten.
Da sah er von weitem den Mann, den er tags zuvor aus der brennenden Sonne gerettet, dessen Wunden er behandelt, dem er zu essen und zu trinken gegeben hatte. Da ist ja mein Freund, dachte Moses. Ich will mit ihm besprechen, was mir in der Nacht durch den Kopf gegangen ist.
Der Mann war nicht allein. Aber diesmal war der andere kein Soldat, kein Ägypter. Er trug die schäbigen Kleider eines Hebräers. Die beiden sprachen miteinander. Ganz offensichtlich war es ein heftiges Gespräch, beide fuchtelten mit den Armen, manchmal stießen sie sich an. Der Wind verwehte ihre Worte,
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