Geschichten von der Bibel
die Amme abführen, befahl, man solle sie in ihr Gemach schleppen und dort aufs Bett binden und erst wieder losmachen, wenn sie eingeschlafen sei.
Und die Amme schlief tatsächlich ein, schlief drei Tage und drei Nächte, und alle meinten, sie sei gestorben, aber sie war nicht gestorben, sie hatte ihre Träume befragt, und keiner ihrer Träume wußte etwas über Moses, und erst nach drei Tagen und drei Nächten kam ein Traum, der wußte etwas.
Und Malul fragte wieder: »Weißt du jetzt, was mit meinem Moses ist? Hast du einen Traum befragt? Wohin ist Moses gegangen?«
»Ja, ich habe einen Traum gefunden und ihn befragt«, sagte die Amme. »Dein Moses ist in einem fremden Land. Er ist in dem Land, wo die Mohren leben. Er ist der König der Mohren geworden.«
Und sie erzählte Malul Geschichten, erzählte ihm Märchen. Wie sie es ihr Leben lang getan hatte. Und Malul lauschte ihren Geschichten.
Aber die Geschichten machten ihn nicht glücklich. Erst war seine Seele krank geworden, nun wurde auch sein Körper krank. Es fing mit Bauchgrimmen an, am Ende lag er danieder, konnte sich nicht mehr bewegen, auf seiner Haut blühte der Aussatz weiß wie Schimmel.
Der Pharao weinte. Und fluchte. Und verfluchte. Und verfluchte alle. Und haßte alle. Und da fiel ihm einer ein, der auch auf alle fluchte, der auch alle haßte, nämlich Bileam ben Beor. Und er rief nach dem Hellseher.
»Als was soll ich dir dienen?« fragte der Goldene. »Als Hellseher, als Schmeichler oder als Ratgeber?«
»Als Ratgeber«, sagte Malul.
»Du weißt, wie hoch mein Ratgeberhonorar ist?«
»Ich bin der Pharao«, rief Malul, »mir gehört die Welt!«
»Also, in welcher Angelegenheit brauchst du meinen Ratschlag?«
»Sieh mich an!« sagte Malul. »Warum bin ich so, wie ich bin?«
»Schuld sind die, die immer schuld sind«, sagte Bileam ben Beor. »Die Juden.«
»Was soll ich tun?«
»Töte sie!«
»Nein«, sagte Malul. »Ich werde zu ihnen gehen. Ich werde die Juden bitten, sie sollen mich in Frieden lassen.«
Malul, der Unglückliche, der vom Aussatz Zerfressene, ließ seine Sänfte kommen, und er gab den Trägern Befehl, ihn nach Gossem zu bringen, wo die Juden lebten. Aber er erreichte sein Ziel nicht. Die Träger stolperten, Malul stürzte zu Boden. Ein elendes, blasses, mageres Ding war sein Körper nur noch.
Die Juden standen um ihn herum.
»Helft mir«, sagte er, und es war alle Kraft nötig, um das zu sagen. »Helft mir, ich bin der Herr der Welt!«
»Das kann nicht sein«, sagten die Juden. »Wir wissen, was uns der Pharao angetan hat. Wäre er wie du, dann hätten wir uns das nicht gefallen lassen.«
Und sie drehten sich um und gingen und ließen Malul allein, und Malul starb. Und seine Tränen flossen ihm noch aus den Augen, da schlug sein Herz schon lange nicht mehr.
ZIPPORA UND REGUEL
Von den Nöten der großen Helden und den Nöten des Erzählers, über sie zu berichten – Von den Brunnen und ihrer Tradition – Von einer Frau, die allein und zu Fuß durch die Wüste geht – Von Wimpern, einem Mund und einer Nase – Von Liebespaaren, die keine sind – Von der Entdeckung, daß ohne Liebe das Leben leer ist – Vom Zorn aller Zorne – Vom richtigen Anschauen – Von der Verwandlung der Untreue in Heldentum – Von einem Gespräch über den Dank – Von einem Ast aus dem Paradies
Als Moses Ägypten verließ, war er ein junger Mann. Als er zurückkehrte, war er achtzig Jahre alt. Wo war Moses gewesen? In so vielen Jahren! Das ist das Leben selbst. Was hat er erlebt? Aus der Bibel erfahren wir wenig, viel zuwenig jedenfalls, um uns diesen Lebensabschnitt zu einer Lebensgeschichte zu formen. Also müssen wir uns nach anderen Quellen umsehen.
Moses, der Gesetzgeber, der Religionsstifter, korrekter müßte es heißen: der Religionserneuerer, er ist ja nicht nur eine zentrale Figur des Interesses von Theologen und Rechtsgeschichtlern. Solchen herausragenden Persönlichkeiten wird auch im Gedächtnis des Volkes ein Denkmal gesetzt, und solche Denkmale bestehen eben aus Geschichten – dem einzigen Baumaterial, über das auch der ärmste Mann im Überfluß verfügt. Die Sagen, Märchen, Legenden, Anekdoten über Moses füllen dicke Bände, und die rund sechzig Jahre, die er außerhalb Ägyptens verbracht hat, erscheinen einem plötzlich als eine viel zu kurze Zeit, gemessen an dem, was er erlebt haben soll. Der Volksmund macht aus Moses eine mythische Figur, durchaus vergleichbar mit den Helden des klassischen
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