Geschichten von der Bibel
solchen Baum gesehen?« fragte Reguel.
»Noch nie«, sagte Moses.
»Dann hör zu! Als Adam, der erste Mann, unser aller Vater, und Eva, die erste Frau, unser aller Mutter, aus dem Paradies vertrieben wurden, weil sie eine Frucht vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, da hat Adam von diesem Baum einen Ast abgebrochen, und er hat ihn mit sich genommen hinaus in die kalte Welt. Er hat aus dem Ast einen Pflug geschnitzt und hat im Schweiße seines Angesichts mit dem Pflug die harte Erde aufgerissen. Er hat gesät, manchmal wuchs etwas, manchmal wuchs nichts. Sein Fleiß wurde belohnt durch Früchte der Erde, aber auch damit, daß Edelsteine an seinem Pflug wuchsen. Wenn er faul war und den Pflug in die Erde steckte und sich ins Gras legte, hat der Pflug Wurzeln geschlagen, und Adam mußte alle Kraft aufwenden, um ihn herauszureißen aus der Erde, dabei fielen die Edelsteine ab. Erst wenn er wieder fleißig war, wuchsen sie nach. Als Adam starb, erbte sein Sohn Seth den Pflug mit den Edelsteinen. Seth war ein fleißiger Mann, viele Steine waren gewachsen. Als er starb, wurde der Pflug an Noah weitergegeben. Noah hat aus dem Pflug einen Stab geschnitzt, und mit dem Stab hat er die Tiere in die Arche dirigiert. Über Noah und seinen Sohn Sem ist der Stab zu Abraham gelangt. Abraham hat sich auf diesen Stab gestützt, als er seinen Sohn Isaak auf den Berg führte, um ihn dort zu schlachten. Aber weil er ihn dann doch nicht geschlachtet hat, ist der Stab nach dem Tod Abrahams auf Isaak übergegangen. Der hätte ihn an seinen erstgeborenen Sohn Esau weitergeben wollen, aber Jakob hat seinen Bruder Esau betrogen. Jakob hat den Stab als Wanderstab genommen, als er mit seiner Sippe durch die Wüste zog. Alle Edelsteine sind vom Stab abgefallen, der Stab ist grau und knorrig geworden. Erst als Jakob zwanzig Jahre bei Laban Frondienste geleistet hat, ist der Stab wieder erblüht, Diamanten, Smaragde, Saphire, Lapislazuli sind gewachsen, und er war so schön wie nie zuvor. Jakob reichte den Stab an seinen Sohn Josef weiter, und Josef machte ihn zu seinem Zepter, als er Vizekönig von Ägypten war. Nach dem Tod des Josef verschwand der Stab, niemand wußte, wo er war. Ich schickte die besten Männer aus, um ihn zu suchen, und schließlich wurde er gefunden. Ich zahlte ein Vermögen dafür. Ich nahm ihn und drückte ihn in der Mitte meines Gartens in die Erde. Hier schlug er Wurzeln. Er ist prächtig gewachsen, hat viele Edelsteine angesetzt. Dieser Stab ist mehr wert als alle meine anderen Güter zusammen. Wer meine Tochter Zippora heiratet, der soll diesen Stab bekommen. Aber er muß erst beweisen, daß er Kraft hat, er muß ihn aus der Erde ziehen. Bisher hat es niemand geschafft.«
Moses stellte sich breitbeinig vor den kleinen, schlanken Baum, umschloß den Stamm mit seinen Händen – und riß ihn aus der Erde.
DER BRENNENDE DORNBUSCH
Von Gersom und Eliëser – Vom Schweigen zwischen Eheleuten – Von der großen inneren Leere – Von einem Feuer, das nicht ausgeht – Von einer sehr vielschichtigen Diskussion mit Gott, in deren Verlauf auch gezaubert wird – Vom Sinnbild der Seele
Zippora schenkte Moses einen Sohn. Er nannte ihn Gersom, das heißt: Fremd war ich in einem fremden Haus. Und dann bekam Zippora einen zweiten Sohn, den nannte sie Eliëser. Er war ihr Liebster, vor seinem Vater fürchtete er sich. Wenn Moses ins Haus trat, klammerte er sich an seine Mutter und versteckte sein Gesichtchen in ihren Röcken.
Zippora war nicht glücklich.
Moses war nicht glücklich.
Nach den langen Jahren der Wanderschaft gelang es Moses nicht, sich in den Alltag eines Seßhaften einzufinden. Er arbeitete am Hof seines Schwiegervaters, stellte sich ungeschickt an, war mürrisch, ließ sich nichts befehlen. War faul. Die Knechte beschwerten sich bei König Reguel.
»Wenn er mithilft, haben wir mehr Arbeit«, sagten sie.
»Was ist nur aus dir geworden!« sagte Reguel zu seinem Schwiegersohn.
»Ich bin bald sechzig Jahre alt«, schnaubte Moses zurück, »zu einem Menschen in meinem Alter darf man so etwas nicht sagen!«
Aber er dachte: Was ist nur aus mir geworden!
Bald beteiligte sich Moses nur noch selten an der Arbeit. Er wanderte hinauf in die Berge oder hinaus in die Wüste. Oft blieb er tagelang fort von zu Hause. Um seine Söhne kümmerte er sich wenig. Um seine Frau kümmerte er sich wenig.
Die Mägde sagten: »Er ist nicht wiederzuerkennen. Das soll der sein, den wir vor Zeiten bei dem Brunnen getroffen
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