Geschichten von der Bibel
wird untergehen. Ich will aber nicht in die Geschichte eingehen als einer, der zwei Völker ruiniert hat. Gibt es wirklich keinen friedlichen Weg?«
Gott sagte: »Nein.«
»Und was wird nun weiterhin geschehen?« fragte Moses.
»Dein Gott kennt alle Plagen«, sprach die Stimme hinter dem Rücken des Moses. »Erst einen kleinen Teil der Plagen habe ich geschickt.«
Gerade als die ägyptischen Aufständischen und die israelitischen Aufständischen sich zusammenfanden, um den Palast des Pharaos und die Hütte des Moses zu stürmen, griff Gott ganz tief hinunter in die Hölle, in den tiefsten Höllengrund griff er, und von dort holte er eine Handvoll Dunkelheit herauf, höllische Finsternis, und streute sie über das Land.
Finsternis hieß die neunte Plage.
Es war so dunkel, daß niemand auch nur einen einzigen Schritt zu tun wagte. Es wurde genauso still wie am ersten Tag der Schöpfung oder wie am letzten Tag der Schöpfung.
Und dann rief durch die Finsternis Moses dem Pharao zu: »Laß mein Volk endlich ziehen!«
Und der Pharao rief zurück: »Nein! Laß dich nie mehr bei mir blicken! Wenn ich dich sehe, dann werde ich dich töten.«
Und Moses rief: »Laß uns ziehen, laß uns ziehen für immer.«
Und der Pharao rief: »Das werde ich nicht tun!«
Das waren die neun Plagen. Aber Gott schickte noch eine zehnte Plage, und die brachte mehr Leid als alle anderen Plagen zusammen.
DIE ZEHNTE PLAGE
Vom Bürgerkrieg auf Erden – Von einer drohenden Meuterei im Himmel – Von einem »Zwischenfall« – Von der Verkündung der zehnten Plage – Von den seelischen Konflikten des Aaron und der Mirjam – Von der neuen Einsamkeit des Moses – Von den Ministern des Pharaos – Von den gemeinsamen Tränen der Hebräer und der Ägypter – Von einer tapferen Frau – Von der Nacht des Würgers – Vom Zusammenbruch des Pharaos
Das Chaos brach aus. Bei den Hebräern wuchs der Widerstand gegen Moses. Viele Ägypter protestierten gegen den Pharao. Hebräer kämpften gegen Hebräer, Ägypter gegen Ägypter. Hebräer gegen Ägypter. Ägypter gegen Hebräer. Das Vertrauen zerbrach. Recht wurde zu Rechthaberei. Freude wurde zu Schadenfreude. Der Verstand begab sich unter das Joch des Hasses. Was von den Naturkatastrophen verschont geblieben war, wurde vom Bürgerkrieg niedergemacht.
Die besonnenen Köpfe – es waren nur noch wenige – fragten sich: »Was ist nur aus uns geworden?« Und sie fragten sich weiter: »Wer trägt daran die Schuld?«
Die Antwort war wieder Krieg, denn schuld hatte immer der andere.
Chaos auf Erden. Aber auch Unzufriedenheit und Ratlosigkeit im Himmel. Seit Abraham seinen Sohn Isaak auf Geheiß Gottes auf den Berg geführt hatte, um ihn zu opfern, war im Himmel kein Widerspruch mehr gewesen. Gottes Wort war Engels Tat. Nun machte sich wieder Unzufriedenheit unter den himmlischen Heerscharen bemerkbar.
»Wir verstehen ihn nicht«, sagten die Engel zu den Erzengeln, die über ihnen standen. »Wie soll das denn nur enden? Was für ein Ziel hat Gottes Haß auf den Pharao?«
»Was gehen euch Gottes Ziele an«, antworteten Michael, Gabriel, Ariel, Raphael, Uriel und die anderen.
»Wenn der Weg so viel Leid bringt, dann will man wissen, wie das Ziel heißt«, sagten die Engel.
»Niemand kann Gottes Schöpfung verstehen außer er selbst«, hielten die Erzengel dagegen.
»Wundern wird man sich aber wohl noch dürfen«, sagten die Engel.
Auch die Erzengel wunderten sich. Auch sie waren nicht zufrieden mit der Vorgehensweise Gottes. Das Problem war ja nicht, daß man Gottes Willen nicht verstand, es war ja klar, was er wollte. Er wollte den gottähnlichen Pharao demütigen. Er wollte Rache für sein Volk. Das war alles verständlich. Aber wie er diese Rache führte, das war eigentlich nicht zu akzeptieren. Am Ende würde der Pharao gedemütigt sein, ohne Zweifel, aber um welchen Preis!
Die Engel murrten. Sie murrten, weil sie mit den Menschen Mitleid hatten. Und die Erzengel griffen nicht so strikt durch, wie es ihr Auftrag gewesen wäre. Denn auch die Erzengel hatten Mitleid mit den Menschen. Mitleid mit den Hebräern, Mitleid mit den Ägyptern.
Und dann ereignete sich ein Zwischenfall. Es war ein Zwischenfall, nicht mehr. So viel schlimmes Leid war bereits geschehen, daß große Tragödien zu Zwischenfällen wurden.
In einer der Ziegeleien des Pharaos arbeitete eine Hebräerin, die war hochschwanger. Sie hätte nicht zur Arbeit gehen dürfen, es war viel zu anstrengend für sie, in ihrem
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