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Geschichten von der Bibel

Geschichten von der Bibel

Titel: Geschichten von der Bibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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sagt Kain. »Geh, laß mich in Frieden!«
    »Was ist los mit dir?« fragt Abel. »Was habe ich dir getan?«
    Kain gibt keine Antwort.
    »Schau mir doch wenigstens in die Augen!« sagt Abel.
    Aber Kain schaut seinem Bruder nicht in die Augen. Natürlich hat sich Abel darüber geärgert. Er dreht sich um und stampft davon.
    Da erhob sich Kain von den Knien und rief ihm nach: »Noch etwas!«
    »Was heißt noch etwas?« fragte Abel, ohne sich umzudrehen.
    »Ich will nicht, daß du dein Vieh weiter über meinen Acker treibst.«
    »Und warum nicht?«
    »Ich will es nicht.«
    »Du willst es einfach nicht?«
    »Ja, ich will es einfach nicht.«
    Abel blickte seinen Bruder an, dem die Sonne in die Augen stach, dem der Schweiß über das Gesicht rann.
    Und zum ersten Mal war Verachtung in seiner Stimme: »Weißt du eigentlich«, fragte er, »weißt du eigentlich, warum ich meine Rinder über dein Feld treibe?«
    »Es interessiert mich nicht.«
    »Es sollte dich interessieren. Der Dung der Rinder läßt deine Pflanzen besser wachsen. Hast du das nie beobachtet? Nein?«
    Kain antwortete nicht. Er senkte den Blick.
    »Und?« fragte Abel. »Soll ich meine Rinder über deine Felder treiben?«
    »Ich will es nicht«, sagte Kain.
    In der Nacht aber beobachtete Abel, wie Kain Rindermist aus den Ställen holte und ihn auf sein Feld streute. Abel stellte seinen Bruder zur Rede.
    Wieder fragte er ihn: »Was ist geschehen? Was habe ich getan, daß du mich wie einen Feind behandelst?«
    Und Kain behandelte seinen Bruder tatsächlich wie einen Feind: »Der Boden, auf dem du stehst«, sagte er, »er gehört mir. Erhebe dich in die Lüfte!«
    »Du Narr!« rief Abel aus. »Die Kleider, die du trägst, sie stammen von meinen Tieren. Zieh sie aus!«
    Aber Abel war doch traurig über diesen Streit. Er liebte seinen Bruder, er wußte nicht, was der Grund für sein Verhalten war, aber er wollte Versöhnung. Und er wußte kein anderes Mittel, um seinen Bruder wieder zu gewinnen, als ein Geschenk.
    Alles war neu in dieser Zeit, neu und wenig erprobt. Auch die Kunst der Menschenkenntnis war noch nicht sehr entwickelt. Woher sollte Abel wissen, daß Geschenke auch kränken, auch demütigen können. Nämlich dann, wenn immer nur einer schenkt. Was hätte Kain ihm schenken können? Wenn er ihm Brot und Gemüse gab, dann bekam er Fleisch dafür. Das war kein Schenken, das war Tausch.
    Durch Beobachtung hatte Abel eine Entdeckung gemacht: Es gibt Steine, wenn man die heiß macht, dann wird ein Teil flüssig. Man kann diese glühende Flüssigkeit in eine Form rinnen lassen, und wenn sie abkühlt, dann hat man ein Arbeitsgerät, das härter ist, als der Stein war. Abel machte eine Axt und einen Spaten und einen Pflug.
    »Was auch immer der Grund ist, warum du mich haßt«, sagte Abel zu Kain. »Ich bitte dich um Vergebung. Und zum Zeichen, daß unser Streit beendet ist, nimm diese Geschenke von mir.«
    Abel ist derjenige, der alles weiß, Abel ist derjenige, der Geschenke verteilt, Abel ist derjenige, der alles verzeiht, sogar dann, wenn er nicht einmal weiß, was es zu verzeihen gibt. Kain nahm die Geschenke nicht an.
    Abel sagte: »Bruder! Wir müssen doch in Zukunft zusammenleben. Und wenn wir nach dem Tod zu Gott in den Himmel kommen, dann wird er uns fragen, was der Grund für unseren Streit war. Und er wird uns fragen, warum wir unseren Streit im Leben nicht beendet haben. Er wird sagen, es war schlecht, daß wir gestritten haben, es war schlecht, daß wir uns nicht versöhnt haben. Und, Bruder, wir werden für das Gute belohnt und für das Schlechte bestraft werden.«
    Und in Kains Antwort lag alle Bitterkeit seines Lebens: »Es gibt keine zukünftige Welt«, sagte er. »Es gibt keine Belohnung für das Gute, es gibt keine Bestrafung für das Schlechte. Das Paradies ist verloren. Diese Welt hier ist nicht aus Gnade geschaffen worden, hier herrscht kein Erbarmen. Ich habe Gottes Wort befolgt, ich habe im Schweiß meines Angesichts mein Brot gegessen. Du hast geruht und geträumt. Und dennoch bist du derjenige, der Geschenke verteilt, der alles weiß, dem alles gelingt, der großzügig alles verzeiht, der von allen geliebt wird.«
    Abel antwortete: »Gott liebt uns beide.«
    »Und das glaubst du?« fragte Kain.
    »Ja.«
    »Daß er dich und mich liebt?«
    »Dich und mich.«
    »Gleichermaßen?«
    »Gleichermaßen.«
    »Das glaubst du wirklich?«
    »Ja.«
    »Na gut«, sagte Kain. »Das möchte ich bewiesen sehen. Bringen wir beide ihm ein Opfer dar. Du

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