Geschichten von der Bibel
ganzen Volk Geborgenheit geben muß.«
Eine Zeitlang wartete Jakob noch, dann sagte er: »Lea, was ist?«
»Was soll sein«, sagte sie und senkte die Augen.
»Ich habe Zweifel, Lea!« sagte Jakob. »Ich habe sogar dreifachen Zweifel. Ich habe Zweifel, ob die Natur so etwas zulassen würde wie eine Schwangerschaft, die doppelt so lang dauert wie eine normale Schwangerschaft. Dann habe ich Zweifel, weil Gott, wenn er jemandem aus unserem Volk erscheint, dann doch wohl mir erscheinen würde, mir ist er aber nicht erschienen. Und am meisten Zweifel, Lea, habe ich an dir.«
Da begann Lea zu weinen, so daß ihre Augen noch mehr tränten als sonst, sie warf sich vor Jakob zu Boden und flehte, er solle ihr und ihrer Tochter nichts antun.
Jakob war entsetzt. Nicht weil Lea eine Tochter geboren hatte, war er entsetzt. Er war entsetzt, weil Lea offensichtlich solche Angst vor ihm hatte.
»Was habe ich dir denn bisher angetan, daß du solche Angst vor mir hast?« sagte er und half ihr auf die Beine. »Bin ich ein solcher Tyrann?«
Nein, Jakob war kein Tyrann, und Lea wußte das, so aber war er besonders zärtlich zu ihr gewesen, eben weil er kein Tyrann sein wollte.
Dina war die erste Tochter des Jakob, aber sie war nicht die einzige. Über Dina wissen wir nicht viel. Kann sein, daß sie ein unscheinbares Mädchen war und daß wir deshalb so wenig von ihr wissen. Muß aber nicht sein. Über Mädchen wurde nicht viel berichtet. Wenn ein Mann einem anderen Mann ein Versprechen gab und wenn dieses Versprechen ein großes Versprechen war, dann wurde es nicht mit Handschlag besiegelt, sondern dadurch, daß sie sich gegenseitig die Hand an das Geschlechtsteil legten. Die Männlichkeit, die kam gleich hinter der Göttlichkeit, und dann kam lang, lang nichts und dann erst das andere Geschlecht …
Aber Dina muß ein besonders anziehendes Wesen gehabt haben. Denn als Schechem, der Königssohn, sie sah, war er so verzaubert, daß er beschloß, sich über alle Gepflogenheit hinwegzusetzen.
Er ging zu seinem Vater und sagte: »Ich liebe die Tochter Jakobs. Ich will, daß sie meine Frau wird.«
»Nie haben sich unsere Völker gemischt«, sagte Hamor. »Ob deine Liebe Grund genug ist dafür?«
Ohne Dina könne er nicht mehr leben, sagte Schechem.
»Und sie?« fragte Hamor. »Will sie, daß du ihr Mann wirst?«
»Ja«, sagte Schechem. »Sie will es.«
Hamor kannte Jakob sehr gut, er wußte, daß Jakob einer Heirat nicht zustimmen wird.
»Warte ein paar Tage«, sagte er zu seinem Sohn, »dann wirst du dir das Mädchen aus dem Kopf geschlagen haben.«
Aber Schechem schlug sich Dina nicht aus dem Kopf. Er wurde krank, krank vor Sehnsucht. Da faßte sich Hamor ein Herz und ging zu Jakob.
»Laß uns alte Männer einen Spaziergang machen«, sagte Hamor.
So gingen Jakob und Hamor in die Wüste hinein, bis sie das Lager hinter sich nicht mehr sehen konnten. Hamor erzählte, er erzählte alte Geschichten aus seiner Familie. Jakob hörte zu. Er wußte, am Ende würden sich die Geschichten immer mehr der Gegenwart nähern, und dann würde König Hamor eine Bitte an ihn richten. Das war durchaus üblich. Man fiel nicht mit der Tür ins Haus. Es wäre als Brüskierung verstanden worden, wenn der Bittende sein Anliegen ohne Umschweife vorgetragen hätte. Das umständliche Geschichtenerzählen war ein Akt der Höflichkeit, und den ließ sich Jakob gern gefallen.
Schließlich aber, nach Stunden, kam Hamor doch zur Sache. Er muß ein guter Erzähler gewesen sein, dieser Hamor, denn es war ihm gelungen, Jakobs Herz zu öffnen.
»Wenn das Glück der Kinder davon abhängt«, sagte Jakob, »dann will ich nicht im Wege stehen. Ich werde mit meinen Söhnen sprechen.«
Einen ganzen Tag lang schleppten die Knechte des Hamor Geschenke zum Zelt Jakobs. Jakob sprach mit seinen Söhnen. Außer um Josef und Benjamin hatte sich Jakob lange nicht mehr um seine Söhne gekümmert. Seit dem Tod Rahels hatte er die Söhne seiner anderen Frauen wie Fremde behandelt. Das hatte Verbitterung in ihnen ausgelöst und Traurigkeit und Zorn, bei einigen sogar Haß. Besonders ärgerten sie sich darüber, daß Josef und Benjamin bei dieser Aussprache nicht anwesend waren. Das war ein Affront, der ihnen nur noch deutlicher machen sollte, wie fern sie und wie nahe die beiden dem Vater standen, so nahe, daß er sich offensichtlich längst schon mit ihnen beraten hatte.
»Nein«, sagten die Söhne der Lea, der Silpa, der Bilha. »Nein, wir wollen das nicht! Unsere
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