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Geschichten von der Bibel

Geschichten von der Bibel

Titel: Geschichten von der Bibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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gut sein – für die Welt und für ihn. Aber sie hatten zu großen Respekt vor ihrem Vater, und sie wußten – oder vermuteten –, daß Josef alles und das sofort seinem Vater weitererzählte.
    Und darum trauten sie sich zu Josef nicht mehr zu sagen als: »Du bist ein … Besserwisser.«
    Und sie bissen sich dabei auf die Zähne und krallten die Hände in den Gürtel, damit die sich nicht selbständig machten.
    »Was ist dabei, wenn einer etwas besser weiß?« erwiderte Josef gelassen.
    Was nämlich erschwerend dazukam, war, daß Josef gar nicht merkte, wie sehr sich seine Brüder über ihn und seine Ratschläge ärgerten. Er konnte sich nicht vorstellen, daß ihn seine Brüder weniger liebten, als sein Vater ihn liebte. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß es auf der Welt jemanden gab, der ihn nicht liebte. Hätte man ihn gefragt, er hätte ohne Aufschneiderei, aber auch ohne Bescheidenheit gesagt: Ja, ich bin wahrscheinlich der liebenswürdigste Mensch. Es war für ihn eine ausgemachte Selbstverständlichkeit, daß er der Mittelpunkt der Welt war. Und darum setzte er selbstverständlich voraus, daß sich die meisten, die allermeisten Gedanken seiner Brüder um ihn drehten. Und damit hatte er gar nicht so unrecht.
    Schimeon und Levi konnten ihn besonders wenig leiden, und Gad und Dan haßten ihn. Benjamin dagegen, der Kleine, verehrte Josef. Zu der Zeit, als unsere Geschichte spielt, war Josef sechzehn, Benjamin sechs. Und immer noch wollte Benjamin, daß Josef ihm die Hand hielt, wie er es getan hatte, als er noch nicht richtig sprechen konnte und sie im Lager herumspaziert waren. Benjamin ließ sich von Josef die Sterne erklären, und Josef wußte über die Sterne viel zu sagen. Und Benjamin ließ sich von Josef seine Träume deuten. Das mochte der kleine Benjamin am allerliebsten, mit seinem Bruder Josef draußen auf dem Feld im Schatten eines Baumes zu sitzen und seinem Bruder einen Traum zu erzählen und sich diesen Traum von ihm deuten zu lassen.
    »Ich denke im Traum über Sachen nach, über die ich im Wachen nicht nachdenke«, sagte Benjamin. »Warum ist das so?«
    »Du bist nicht der einzige, dem es so geht«, sagte Josef.
    »Und ich mache Sachen, die ich im Wachen nie machen würde«, sagte Benjamin, »auch böse Sachen.«
    »Dafür brauchst du dich nicht zu schämen«, sagte Josef.
    »Bin ich im Traum ein anderer? Oder kriecht ein anderer in meinen Traum, und ich sehe dann, was er tut, und höre, was er sagt, und denke, was er denkt?«
    »Das weiß ich nicht«, sagte Josef.
    »Aber wenn du es nicht weißt, wer weiß es dann?«
    »Niemand«, sagte Josef.
    Er wollte damit sagen: Kein Mensch kann es wissen. Für Benjamin aber war klar: Wenn Josef es nicht einmal weiß, dann weiß es auch sonst niemand, denn Josef ist der klügste Mensch auf der Welt.
    Sebulon, ein Sohn Jakobs mit Lea, ein Besonnener, einer, der nicht gern redete, der es auch nicht gut konnte, der nur einmal in Leidenschaft geraten war, nämlich als er das Meer gesehen hatte, weswegen er von da an von seinen Brüdern »der Seefahrer« genannt wurde – Sebulon war der erste, der sah, daß das Verhältnis der Brüder zu Josef sich zuspitzen und schließlich zu einer gefährlichen Krise ausarten könnte.
    Er ging zu Jakob, sagte: »Vater, du mußt mit Josef reden!«
    »Was macht Josef falsch?« fragte Jakob.
    »Er macht nichts falsch«, sagte Sebulon, »es ist seine Art, die den Umgang mit ihm schwierig macht.«
    »Was soll das sein«, sagte Jakob unwirsch, er vermied es, seinem Sohn ins Gesicht zu sehen. Seit der entsetzlichen Geschichte in Schechem schauderte es Jakob vor den Blicken seiner Söhne. »Was kommst du in mein Zelt und klagst deinen Bruder wegen seiner Art an?«
    »Ich klage ihn ja nicht an«, wand sich Sebulon. »Das ist es ja gerade, daß man Josef nichts vorwerfen kann. Er macht nichts falsch. Er ist nicht unfreundlich zu uns. Er gibt uns nur so ein Gefühl …«
    »Was für ein Gefühl gibt euch Josef?«
    »Er gibt uns das Gefühl, daß wir alles falsch machen. Er ist nicht böse zu uns, aber er gibt uns das Gefühl, als wären wir böse …«
    »So?« sagte Jakob.
    »Vater!« sagte Sebulon. »Gibt es denn gar nichts, worin wir neben Josef bestehen können?«
    Darauf antwortete Jakob nicht, sondern sagte nur: »Macht eure Arbeit, und kümmert euch nicht um Josef!«
    Jakob liebte Josef, und auch Benjamin liebte er. Aber die anderen – er wollte nicht einmal mit ihnen reden.
    Eines Tages, ohne daß ein Anlaß

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