Geschichten von der Bibel
den Weg gefunden, mit geschlossenen Augen sogar, denn er war ein Reisender, und ein Reisender trägt eine Karte der gangbaren Wege in sich – jedenfalls jener Wege, die ihn nach Hause führen.
Am letzten Abend vor seiner Ankunft in der Stadt – gerade hatte er Befehl gegeben, bei einem Brunnen das Lager aufzuschlagen – sah er einen Reiter über die Dünen kommen. Der Fremde winkte einen Gruß, der Händler winkte zurück, und bald darauf standen sich Händler und Fremder gegenüber und vollzogen ihr Begrüßungsritual. Der Fremde fragte, ob er sich der Karawane anschließen dürfe, er habe dasselbe Ziel, nämlich die Hauptstadt Ägyptens.
Von allem Anfang an empfand der Händler wärmste Sympathie für diesen Fremden. Die Augen dieses Mannes, deren Blick immer etwas erstaunt wirkte, auch wenn es gar nichts zu staunen gab, schauten einen so offen und unbewaffnet und ohne Hintergedanken an, daß es leichtfiel, über Dinge zu reden, die man mit einem Fremden niemals besprechen hätte wollen.
Die beiden speisten zusammen, tranken zusammen, erzählten, schwiegen, erzählten wieder, und als sie sich zur Nachtruhe verabschiedeten, war dem Händler, als habe er den Abend mit einem Freund verbracht, einem alten Freund, einem Bruder. Noch nie in seinem Leben war ihm ein Mensch begegnet, der in solcher Harmonie mit ihm schwang, der die Welt und die Menschen ebenso sah und deutete wie er, der über dasselbe lachte, sich über dasselbe Sorgen machte, dieselben Hoffnungen in sich trug. Dieser Mann, dachte der Händler voll Erstaunen, war ein Spiegelbild seiner selbst. So selbstverständlich war ihm während des Abends seine Gegenwart gewesen, daß er ganz vergessen hatte, ihn nach seinem Namen zu fragen.
»Zephu«, antwortete der Fremde, als ihn der Händler am nächsten Morgen fragte.
Er habe nie einen solchen Namen gehört, sagte der Händler und fragte, aus welcher Sprache er stamme.
»Man trägt einen Namen und denkt nicht darüber nach«, sagte der Fremde. »Als ich darüber nachdachte, haben meine Eltern schon nicht mehr gelebt, und ich konnte sie nicht fragen.«
Und dann, als die Karawane weiterzog, begann Zephu ein Gespräch.
»Du stammst aus Ägypten?«
»Ja«, sagte der Händler. »Ich bin in Ägypten geboren und auch aufgewachsen. Ich habe die ganze Welt gesehen, aber ich möchte nirgendwo anders leben als in Ägypten.«
»Und was ist der Grund für deinen Stolz?«
Die beiden ritten hinter der Karawane her, so ließ es sich leichter reden, denn im Troß war ein Geschrei, die Leute freuten sich auf zu Hause, zu lange waren sie schon unterwegs, und in fremden Gegenden hält man besser den Mund. Nun war die Heimat nur noch wenige Stunden entfernt.
»Der Grund für meinen Stolz«, sagte der Händler, »ist der Friede. Ägypten lebt in Frieden mit all seinen Nachbarn. Ich bin ein Mann der Wirtschaft. Die Wirtschaft aber kann nur im Frieden blühen.«
»Du bist ein Mann der Wirtschaft, das ist wahr«, spann Zephu das Gespräch weiter. »Du sagst, Ägypten lebt mit seinen Nachbarn in Frieden. Das will ich glauben. Aber heißt das auch, daß die Nachbarn mit Ägypten in Frieden leben?«
Dieser Gedanke war dem Händler noch nicht gekommen.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte er.
»Ägypten ist reich, wie ich höre, und wie ich weiter höre, profitieren alle Menschen, die in Ägypten leben, von diesem Reichtum.«
»Ja.«
»Wirklich alle?«
»Alle.«
»Auch jene, die eine andere Sprache sprechen, eineandere Religion haben, andere Bräuche?«
»So ist es.«
»Und alle sind glücklich?«
»Alle sind glücklich.«
»Das muß doch den Neid der Nachbarn erregen.«
»Tut es aber nicht.«
»Und woher nimmst du deine Gewißheit?«
Da lächelte der Händler.
»Hast du je von Josef gehört? Vor vielen Jahren war er Vizekönig in Ägypten. Der Pharao überließ ihm das Regieren. Weil Josef so klug war, so weitblickend. Und er hat klug regiert, hat den Menschen Wohlstand gebracht und hat sie gelehrt, den Wohlstand zu halten. Das war weitblickend. Und seine Außenpolitik war ebenso klug und weitblickend wie seine Innenpolitik, und das hat dazu geführt, daß Ägypten keine Feinde hat. Innen nicht und außen nicht.«
»Ah, Josef«, sagte Zephu, »Josef! Ja, ja, ich habe von ihm gehört. Nur das Beste. Nur das Allerbeste.«
Und nach einer Weile fing Zephu wieder an. »Angenommen«, sagte er. »Einfach einmal angenommen, rein theoretisch und wirtschaftlich betrachtet: Gibt es ein Volk, das für Ägypten
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