Geschmacksverwirrung - Angermüllers siebter Fall
ein richtiges Zuhause anfühlte. Und das Kochen, endlich einmal nicht nur für sich allein, bereitete ihm noch mehr Vergnügen als gewöhnlich. Das Schönste für ihn war natürlich zu sehen, wie sich die Kinder begeistert auf das Essen stürzten. Die breiten Nudeln mit dem milden Spitzkohl, der sauren Sahne, Kümmel und Schinkenwürfeln waren ein gleichzeitig deftiger wie sanfter Genuss. Wie von selbst glitten sie vom Löffel in den Mund. Genau das richtige Essen, das nach einem trüben Novembertag die Seele wärmte.
»Papa, das schmeckt so geil!«, stöhnte Judith nach der zweiten Portion, »aber ich hör jetzt lieber auf. Will ja noch den Nachtisch!«
Lina starrte durch die Windschutzscheibe, die mit jedem Ausatmen mehr beschlug. Die Tür von der Wohnung versiegelt! Von der Polizei! Nun konnte sie es vergessen. Sie würde sich nicht zurückholen können, was sie leichtfertig aus der Hand gegeben hatte. In seine Hand gegeben hatte! Sie versuchte, wieder ruhig zu werden.
Wer konnte denn so was ahnen? Ratlos hing sie mit den Armen über dem Steuer. Im Rückspiegel sah sie, dass Teufel und Madame sie von der Rückbank aus aufmerksam beobachteten. Und dann noch die Begegnung mit dem Mann und den beiden Mädchen. Besonders die eine war ja nett und so an den Hunden interessiert, aber es wäre ihr eigentlich lieber gewesen, niemand hätte sie dort gesehen. Ihr Handy meldete sich. Es war schon wieder Olaf. Wie unzählige Male vorher drückte sie ihn weg. Der Typ nervte! Obwohl – gerade im Moment hätte sie gut jemanden brauchen können, um ihm ihr Herz auszuschütten. Aber da gab es niemanden, mit dem sie über die Sache reden konnte. Die musste sie allein mit sich ausmachen.
Sie startete den Wagen, schaltete das Licht ein und rollte langsam aus der Parklücke. Über die leeren Lübecker Straßen nahm sie den Weg zur A 1. Nebel herrschte heute Abend nicht mehr, dafür war die Temperatur auf unter Null gefallen. Hoffentlich war es nicht glatt. Jedes Glitzern auf dem feuchten Asphalt erschien ihr verdächtig. Lina schlich mit 80 über die Autobahn, während auf der Überholspur alle anderen Wagen als graue Schatten an ihr vorbeiflogen.
Sie war keine gute Autofahrerin und vermied es, wo es nur ging, sich selbst ans Steuer zu setzen. Aber das war der Nachteil vom Wohnen auf dem Lande, dass man ohne eigenes Auto sehr unbeweglich war. Bei dem überschaubaren Verkehr in ihrem Ort und der Umgebung fühlte sie sich inzwischen recht sicher. Der Weg nach Lübeck war etwas anderes. Aber mit Bahn und Bus – in Kellenhusen gab es keinen Bahnhof – verschlang er eine Unmenge Zeit, und am Abend kam man überhaupt nicht mehr zurück. Und so hatte sie für diese Fahrt in die Stadt ihre Abneigung überwinden müssen.
Nach fast anderthalb Stunden kam sie vor dem Apartmenthaus an, in dem ihre Wohnung lag. In die Erleichterung, nach Hause gekommen zu sein, mischten sich sogleich wieder die quälenden Gedanken um den Riesenfehler, den sie begangen hatte. Doch etwas verhinderte, dass sie weiter darüber nachgrübeln konnte. Das Geräusch der ins Schloss fallenden Haustür erklang nicht hinter ihr wie gewöhnlich. Als sie sich umdrehte, sah sie aus den Augenwinkeln einen Mann in den Flur kommen. Oh Mann, Olaf, du Nervensäge, fluchte sie innerlich. Aber es war nicht Olaf.
»Nanu, deine Freundin heute gar nich da?«, fragte Jansen leise, als sie sich am frühen Morgen im Institut für Rechtsmedizin trafen.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte Angermüller kühl. Jansen grinste nur statt einer Antwort. Der Kriminalhauptkommissar wusste genau, dass sein junger Kollege ihn zu gern zu einer genaueren Aussage zu dem Thema provoziert hätte, von dem dieser bisher nur ahnte, dass es eines war.
Ein Rechtsmediziner von der Uni Kiel assistierte Steffen von Schmidt-Elm, da seine Kollegin Anita Ruckdäschl zu einer Fachtagung zum Thema Stichverletzungen nach München geflogen war. Georg war überrascht. Sie hatte ihm gar nicht erzählt, dass sie verreisen würde. Aber im nächsten Augenblick dachte er, dass es eigentlich nur typisch für Anita war und zum bisherigen Verlauf ihrer Beziehung passte. Im Grunde war schon das Wort Beziehung übertrieben für die in loser Abfolge stattfindenden Treffen. Einerseits hatte Anita sich bei ihm über ihre Nichtsesshaftigkeit beklagt, ihr Singledasein als unfreiwilliges Schicksal dargestellt, andererseits schien sie selbst aber alles zu tun, um bloß nicht zu viel Nähe, zu viel Vertrautheit
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