Geschmacksverwirrung - Angermüllers siebter Fall
auf die Dienststelle nach Lübeck nehmen, aber ich denke, hier zu Hause mit ihm zu sprechen ist vielleicht die angenehmere Variante.«
Einen Moment stand der Pastor unschlüssig in der Tür. Seinem Gesicht waren die inneren Kämpfe deutlich anzusehen.
»Nun gut, dann kommen Sie rein«, überwand er sich schließlich und gab die Schwelle frei, »aber ich möchte gern dabei sein.«
»Auch das tut mir leid, aber wir müssen Ihren Sohn allein befragen.«
»Ja, was denn?«, empörte sich Mehlberger und riss die Lesebrille von der Nase. »Muss ich jetzt gleich unseren Anwalt anrufen, oder wie?«
»Papa, lass doch.«
Angermüller erkannte den Jungen sogleich wieder, obwohl die blonden Haare inzwischen sehr viel länger waren als auf dem Foto in seiner Akte. Er schien wohl einen Teil der Diskussion an der Haustür mit angehört zu haben.
»Ich kann mit der Polizei reden. Kein Problem.«
»Gut, wenn du meinst, Jonathan«, sagte sein Vater fast gehorsam, »aber wenn du mich brauchst, rufst du! Ich bin in meinem Arbeitszimmer.«
Der junge Mann führte die Beamten ins Wohnzimmer und bot ihnen Platz am Tisch vor einem der Fenster zum Garten an. Die Wände waren voller Bücherregale. Es gab einen alten Flügel, die Einrichtung war antik, aber eher bescheiden. Überall lagen Sachen herum, Bücher, Spielzeug, Zeitschriften, Briefe, ein Strickzeug – der Raum atmete lebendige Gemütlichkeit.
»Ich mach mal lieber das Licht an. Besonders um diese Jahreszeit ist es von den schönen alten Bäumen vorm Fenster hier drinnen immer sehr dunkel.«
Jonathan Mehlberger setzte sich den beiden Besuchern gegenüber und sah sie ernst und aufmerksam an.
»Sie haben noch Fragen zu der Sache? Ich dachte eigentlich, ich hätte schon alles erklärt.«
Er sagte das ohne Ungeduld oder Verärgerung, stellte einfach nur fest. Insgesamt machte er einen ganz ruhigen, vernünftigen Eindruck. Sie nahmen seine Personalien auf. Jansen stellte das Diktiergerät auf den Tisch.
»Wir sind nicht wegen des angesägten Hochsitzes hier, Herr Mehlberger«, erklärte Angermüller. »Wir würden gern etwas über die aktuellen Aktivitäten der Tierrechtlergruppe erfahren, der Sie angehören.«
»Nicht, dass ich darüber nichts sagen möchte. Aber warum wollen Sie ausgerechnet jetzt was über uns wissen?«
»Wir ermitteln in einem Mordfall, und es gibt Hinweise, dass Tierschützer oder Tierrechtsaktivisten da beteiligt gewesen sein könnten.«
»Wenn Menschen wirklich echte Tierrechtler sind, lehnen sie selbstverständlich Gewalt gegen jedes Lebewesen ab, also gegen Tiere und natürlich auch gegen Menschen.«
»Dat ausgerechnet Sie das sagen, is aber n büschen merkwürdig, oder?«, warf Jansen ungnädig ein.
»Ich kann nur wiederholen, was ich der Polizei immer wieder gesagt habe: Ich hab das nicht gewollt, dass ein Mensch sich verletzt, das war nie so beabsichtigt. Da ist was schiefgelaufen bei der Aktion. Der Hochsitz sollte umgekippt werden, bevor jemand hinaufklettert und verunglückt. Ich weiß, es gibt da so ein paar Idioten, die haben im Internet hinterher getönt, um keinen Jäger wär es wirklich schade und so, aber das waren nur blöde Sprüche, wortradikales Gehabe. Wir waren zu dritt damals, und als wir fast fertig waren, kam diese Rotte Wildschweine angestürmt. Die beiden anderen sind gleich weggerannt, ich hab den Balken noch zu Ende durchgesägt. Es ist mir aber allein nicht mehr gelungen, den Hochsitz zu kippen und natürlich bin ich dann auch vor den Tieren geflohen …«
»Ach wat? Wollten die Wildschweine bei der Aktion gegen die bösen Jäger etwa nich mitmachen?«
Der junge Mann überhörte Jansens Einwurf.
»Und dann war das ein ganz unglücklicher Zufall, dass, bevor wir zurückgekommen sind, um den Hochsitz umzulegen, der Herr Seesen da schon raufgeklettert war. Es tut mir wirklich sehr leid, was passiert ist, das hab ich ihm selbst inzwischen ja auch gesagt. Allerdings scheint er noch nicht so weit zu sein, mir vergeben zu können.«
Den letzten Satz sagte Jonathan Mehlberger völlig ohne Ironie. Er studiere Philosophie, hatte der Pastorensohn angegeben. Passt irgendwie zu ihm, dachte Angermüller, aber was kann man mit Philosophie anfangen, um Geld zu verdienen?
»Können Sie uns denn etwas über Ihre Gruppe erzählen? An welchen Aktionen oder Projekten Sie so arbeiten?«
Mehlberger wiegte seinen Kopf.
»Also, ich glaube, Sie sehen das nicht ganz richtig. Ich bin nicht in so einem straff organisierten Verein, wie Sie
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