Geschöpfe der Nacht
nicht schützen?«
Er antwortete nicht. Er legte einen Arm um seinen Sohn. In diesem neuen Moonlight Bay würde die Familie vielleicht noch eine Zeitlang eine Rolle spielen, aber die alte Vorstellung von einem Gemeinwesens bröckelte bereits.
»Kannst oder willst du mich nicht schützen?« fragte ich. Ohne ein weiteres Schweigen abzuwarten, fuhr ich fort: »Du hast mir nicht gesagt, wer Carl Scorso ist.« Der Glatzkopf mit dem Ohrring, der die Leiche meines Vaters wahrscheinlich zu einem Autopsieraum in einem noch in Betrieb befindlichen unterirdischen Hochsicherheitstrakt in irgendeinem Winkel von Fort Wyvern gebracht hatte.
»Er war einer der ersten Häftlinge, die sich freiwillig für die Experimente gemeldet hatten. Der genetische Schaden, der zu seinem vorherigen soziopathischen Verhalten geführt hat, wurde identifiziert und ausgemerzt. Er ist nicht mehr gefährlich. Er ist einer ihrer wenigen Erfolge.«
Ich starrte ihn an, kam aber nicht dahinter, was er wirklich dachte. »Er hat einen Anhalter getötet und dem Mann die Augen ausgerissen.«
»Nein. Der Trupp hat den Anhalter getötet. Scorso hat nur die Leiche am Straßenrand gefunden und sie Sandy Kirk gebracht, damit er sie entsorgt. So etwas passiert dann und wann. Anhalter, Landstreicher… Es sind früher immer viele von denen die kalifornische Küste entlanggezogen. Heutzutage kommen manche nicht weiter als bis nach Moonlight Bay.«
»Und auch damit lebst du.«
»Ich tue, was man mir befiehlt«, erwiderte er kalt.
Toby legte die Arme um seinen Vater, als wollte er ihn schützen, und sah mich bestürzt an, weil ich so mit seinem Dad sprach.
»Wir alle tun, was man uns sagt«, fuhr Manuel fort. »So läuft das heutzutage hier, Chris. Auf sehr hoher Ebene wurde die Entscheidung getroffen, die Sache unauffällig zu Ende zu bringen. Auf wirklich sehr hoher Ebene. Stell dir nur mal vor, der Präsident der Vereinigten Staaten persönlich würde sich für die Wissenschaft interessieren, und stell dir weiter vor, er hätte die Gelegenheit gesehen, Geschichte zu schreiben, indem er die Gentechnologie mit gewaltigen Mitteln unterstützt, wie Roosevelt und Truman das Projekt Manhattan unterstützt haben, Kennedy das Bemühen, einen Menschen auf den Mond zu bringen. Und stell dir vor, er und alle um ihn herum – und der Politiker, der sein Nachfolger werden wird – seien nun ent
schlossen, diese Sache zu vertuschen.«
»Ist genau das geschehen?«
»Niemand ganz oben will die Öffentlichkeit gegen sich aufbringen. Vielleicht haben sie nicht nur Angst davor, aus dem Amt gejagt zu werden. Vielleicht haben sie Angst davor, wegen Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt zu werden.
Angst davor, von einem wütenden Mob zerrissen zu werden. Ich meine… Soldaten aus Fort Wyvern und ihre Familien, die vielleicht kontaminiert wurden, sind jetzt im ganzen Land stationiert. An wie viele Menschen haben sie es weitergegeben? Nackte Panik könnte ausbrechen, eine internationale Bestrebung, die gesamten USA unter Quarantäne zu stellen. Aber das wäre völlig sinnlos. Denn die derzeitigen Machthaber glauben, daß die ganze Sache keine großen Auswirkungen haben wird. Wie bei einem Läufer, der einen tollen Start hinlegt, und dann geht ihm die Puste aus.«
»Besteht diese Möglichkeit?«
»Vielleicht.«
»Ich bin da anderer Ansicht.«
Er zuckte die Achseln und strich mit einer Hand Tobys Haar glatt, das vom Riemen der Brille, die er getragen hatte, eingedrückt und zerzaust war. »Nicht alle Leute, die die Symptome der Veränderung haben, sind wie Lewis Stevenson. Die Auswirkungen sind unendlich vielfältig. Und einige, die eine schlimme Phase durchleben… die kommen drüber weg. Sie sind im Fluß. Es geht hier nicht um ein Ereignis wie einem Erdbeben oder einem Tornado. Es handelt sich hier um einen Prozeß. Wäre es nötig gewesen, hätte ich mich persönlich mit Lewis befaßt.«
Ich gestand nichts ein. »Vielleicht war es nötiger, als du ahnst«, sagte ich.
»Es darf einfach nicht jeder eigenmächtig so ein Urteil fällen. Wir brauchen Ordnung, Stabilität.«
»Aber es gibt keine.«
»Es gibt mich«, sagte er.
»Ist es möglich, daß man infiziert ist und es nicht weiß?«
»Nein. Unmöglich.«
»Ist es möglich, daß man sich verändert und es nicht merkt?«
»Nein.«
»Daß man am Werden ist?«
»Nein.«
»Du jagst mir verdammte Angst ein, Manuel.«
Die Eule rief wieder.
Eine schwache, aber willkommene Brise rührte wie ein Schöpflöffel
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