Geschöpfe der Nacht
nichts und niemand je lösen könnte. Damals waren wir bereits seit zwei Jahren befreundet; doch während dieser Nacht war unsere Freundschaft stärker geworden, viel inniger als sie es noch wenige Stunden zuvor gewesen war. Wir hatten gemeinsam eine starke, prägende Erfahrung gemacht – und wir spürten, daß dieses Ereignis grundlegender war, als es oberflächlich zu sein schien, grundlegender, als Jungs in unserem Alter es begreifen konnten. In meinen Augen hatte Bobby einen neuen, geheimnisvollen Nimbus erworben, wie ich wohl auch in den seinen, weil wir diese kühne Tat gewagt hatten.
Später würde ich herausfinden, daß dieser Augenblick nur ein Vorspiel war. Unsere wirkliche Zusammenfügung fand in der zweiten Dezemberwoche statt – als wir etwas viel, viel Beunruhigenderes sahen als die Leiche mit dem blutroten Auge.
Nun, fünfzehn Jahre später, hätte man meinen sollen, daß ich zu alt für solche Abenteuer und zu gewissenhaft war, um so unbekümmert wie ein Dreizehnjähriger auf dem Grundstück anderer Leute herumzustöbern. Und doch war ich hier, trat vorsichtig auf Schichten toter Eukalyptusblätter und drückte das Gesicht wieder einmal gegen die schicksalhafte Fensterscheibe.
Die Jalousie war zwar vom Alter vergilbt, schien aber dieselbe zu sein, durch die Bobby und ich vor so langer Zeit gespäht hatten. Die Lamellen standen schräg, aber die Lücken zwischen ihnen waren so breit, daß ich das gesamte Krematorium einsehen konnte. Und mittlerweile war ich so groß, daß ich ohne die Hilfe einer Bank durch das Fenster schauen konnte.
Sandy Kirk und ein Mitarbeiter arbeiteten neben einem Einäscherungs-System der Marke »Power Pak II«. Sie trugen Mundschutz, Gummihandschuhe und Wegwerfschürzen aus Plastik.
Auf der Rollbahre neben dem Fenster lag ein dunkler Leichensack, mit geöffnetem Reißverschluß. Er war aufgerissen wie eine reife Schote, darin eingebettet befand sich ein Toter.
Offensichtlich war es der Anhalter, der anstelle meines Vaters eingeäschert werden sollte.
Er war etwa einen Meter achtzig groß und zirka siebzig Kilo schwer. Da er fürchterlich zusammengeschlagen worden war, konnte ich sein Alter nicht einmal annähernd schätzen. Sein Gesicht war übel zugerichtet.
Zuerst glaubte ich, seine Augen lägen unter schwarzen Blutkrusten verborgen. Dann wurde mir klar, daß beide Augen fehlten. Ich starrte in leere Höhlen.
Ich dachte an den alten Mann mit der sternförmigen Blutung, und wie schrecklich er für Bobby und mich ausgesehen hatte. Das war aber nichts im Vergleich zu diesem Anblick. Damals war es nur das unpersönliche Werk der Natur gewesen, während es sich hier um menschliche Bösartigkeit handelte.
In jener lange zurückliegenden Zeit, in jenem Oktober und November, kehrten Bobby Halloway und ich regelmäßig zum Krematoriumfenster zurück. Wir schlichen durch die Dunkelheit, versuchten, nicht über den Erdefeu zu stolpern, und sättigten unsere Lungen mit Luft, die nach den Eukalyptus-bäumen in der Umgebung duftete, ein Geruch, den ich bis zum heutigen Tage mit dem Tod gleichsetze.
Während jener zwei Monate führte Frank Kirk vierzehn Beerdigungen durch, aber nur drei dieser Verstorbenen wurden eingeäschert. Die anderen wurden für traditionelle Beerdigungen einbalsamiert.
Bobby und ich beklagten, daß der Einbalsamierungsraum über keine Fenster verfügte, die wir benutzen konnten. Dieses Sanctum sanctorum – »wo sie die nasse Arbeit erledigen«, wie Bobby es ausdrückte – lag im Keller, sicher abgeschirmt vor leichenfledderischen Spionen wie uns.
Insgeheim war ich erleichtert, daß unser Schnüffeln auf Frank Kirks trockene Arbeit beschränkt blieb. Ich glaube, das galt auch für Bobby, obwohl er so tat, als wäre er zutiefst enttäuscht.
Frank nahm die meisten Einbalsamierungen wohl auch tagsüber vor, während die Einäscherungen fast ausschließlich in den Nachtstunden stattfanden. Was mir ja schließlich ermöglichte, diese hier zu beobachten.
Obwohl der klobige Feuerbestattungsofen – ein primitiveres Modell als der »Power Pak II«, den Sandy heutzutage benutzt – menschliche Überreste bei einer sehr hohen Temperatur beseitigte und über eine Filteranlage verfügte, drang dünner Rauch aus dem Schornstein. Frank führte die Einäscherungen aus Respekt für trauernde Familienangehörige oder Freunde nur nachts durch, Familienangehörige die tagsüber vielleicht aus der tiefergelegenen Stadt zum Bestattungsinstitut auf dem Hügel
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