Geschöpfe der Nacht
Fahrräder über den Sand und den Rasen des Parks, der an den Strand grenzte, zur nächsten Straße.
»Scheiße«, sagte Bobby, als er auf sein Fahrrad stieg.
»Ja«, sagte ich.
Wir fuhren auf unterschiedlichen Wegen nach Hause zurück.
Wir gingen ohne Umschweife zu Bett, als wären wir krank. Wir schliefen. Wir träumten. Das Leben ging weiter.
Wir kehrten nie wieder zum Fenster des Krematoriums zurück.
Wir sprachen nie wieder von Mrs. Acquilain.
Auch heute, all die Jahre später, würden sowohl Bobby als auch ich uns immer noch opfern, um den anderen zu retten – ohne das geringste Zögern.
Wie seltsam die Welt doch ist: Diese Dinge, die wir so problemlos berühren können, diese Dinge, die für die Sinne so wirklich sind – die süße Architektur eines Frauenkörpers, die eigene Haut, die eigenen Knochen, das kalte Meer und das Funkeln der Sterne –, sind weit weniger wirklich als Dinge, die wir nicht berühren oder schmecken oder riechen oder sehen können. Fahrräder und die Jungs, die auf ihnen fahren, sind nicht so wirklich wie das, was wir mit unserem Verstand und Herzen fühlen, weniger stofflich als Freundschaft und Liebe und Einsamkeit, die noch das Ende der Welt überdauern werden.
Am heutigen Märzabend, der im Zeitstrom ein weites Stück von der Kindheit entfernt lag, waren das Fenster des Krematoriums und das Schauspiel dahinter viel wirklicher, als ich es mir gewünscht hätte. Jemand hatte den Anhalter brutal totgeschlagen – und ihm dann die Augen ausgestochen.
Selbst wenn der Mord und der Austausch dieser Leiche gegen die meines Vaters Sinn ergeben sollte, wenn man alle Fakten kannte, blieb eines unklar: Warum hatte man die Augen entfernt? Konnte es irgendeinen logischen Grund dafür geben, diesen mitleiderregenden Mann augenlos in das alles verzehrende Feuer des Einäscherungsofens zu schicken?
Oder hatte jemand den Anhalter verstümmelt, nur um den tiefen, schmutzigen Nervenkitzel daran auszukosten?
Ich dachte an den Riesen von Mann mit dem glattrasierten Kopf und dem Ohrring mit der Perle darin. An sein breites, abgestumpftes Gesicht. An seine Augen: die eines Jägers, schwarz und ruhig. An seine kalte, stählerne Stimme mit dem rostigen Schnarren.
Man konnte sich durchaus vorstellen, daß solch ein Mann Vergnügen am Leiden eines anderen empfand, daß er Fleisch so achtlos und träge beschnitt wie ein Landadliger einen Pfropfzweig.
In der seltsamen neuen Welt, die während meiner Erlebnisse im Keller des Krankenhauses zum Vorschein gekommen war, konnte man sich durchaus vorstellen, daß Sandy Kirk persönlich die Leiche verstümmelt hatte: Sandy, so gutaussehend und glattgeleckt wie ein Model in einer Hochglanzzeitschrift; Sandy, dessen lieber Vater bei der Verbrennung von Rebecca Acquilain geweint hatte. Vielleicht waren die Augen in dem Schrein in der entlegenen und dornigen Ecke des Rosengartens, den Bobby und ich nie hatten finden können, als Opfergabe dargebracht worden.
Als Sandy und sein Mitarbeiter die Bahre zum Ofen rollten, klingelte das Telefon im Krematorium.
Schuldbewußt zuckte ich vom Fenster zurück, als hätte ich eine Alarmanlage ausgelöst.
Als ich mich wieder näher ans Glas beugte, sah ich, wie Sandy den Mundschutz ablegte und den Hörer vom Wandtelefon nahm. Der Tonfall seiner Stimme zeugte von Verwirrung, dann Beunruhigung, dann Zorn, aber durch die Doppelverglasung konnte ich nicht verstehen, was er sagte.
Sandy knallte den Hörer so fest auf die Halterung, daß er den Apparat fast von der Wand gerissen hätte. Wer auch immer am anderen Ende der Leitung gewesen war, er hatte einiges zu hören bekommen.
Dann zog Sandy die Gummihandschuhe aus und redete dabei wütend auf seinen Mitarbeiter ein. Ich glaubte zu hören, daß er meinen Namen nannte – aber weder mit Bewunderung noch mit Zuneigung.
Der Angestellte, Jesse Pinn, war ein kleiner, flinker Jagdhund von Mann, mit hagerem Gesicht, rotem Haar, rostbraunen Augen und einem schmalen Mund, der sich wie in Vorfreude auf den Geschmack eines erlegten Kaninchens schief verzogen hatte. Pinn zog den Reißverschluß des Leichensacks mit dem Anhalter darin wieder zu.
Sandys Anzugjacke hing an einem von mehreren Kleiderhaken an der Wand rechts neben der Tür. Als er sie vom Haken nahm, sah ich erstaunt, daß unter dem Sakko ein Schulterhalfter hing, das von dem Gewicht einer Faustfeuerwaffe nach unten gezogen wurde.
Als Sandy sah, daß Pinn am Leichensack herumfummelte, erteilte er ihm einen scharfen
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