Geschöpfe der Nacht
fragte Pinn spöttisch.
Father Tom antwortete nicht.
»Hast du ›Gott stehe mir bei‹ gesagt?« verhöhnte Pinn ihn. »›Gott stehe mir bei‹? Das ist verdammt unwahrscheinlich. Schließlich bist du längst keiner der Seinen mehr, oder?«
Diese seltsame Behauptung bewirkte, daß Father Tom sich gegen die Wand zurücklehnte und die Hände vors Gesicht schlug. Vielleicht weinte er; ich konnte es nicht genau erkennen.
»Stell dir das Gesicht deiner hübschen Schwester vor«, sagte Pinn. »Und jetzt stell dir vor, wie ihre Knochenstruktur verbogen und verzerrt und ihre Schädeldecke herausgepustet wird.«
Er feuerte mit der Pistole zur Decke hoch. Der Lauf war so lang, weil er mit einem Schalldämpfer versehen war, und statt eines lauten Knalls vernahm ich nur ein Geräusch, als würde man mit der Faust in ein Kissen schlagen.
Im gleichen Augenblick und mit einem harten Scheppern traf die Kugel den rechteckigen Metallschirm der Lampe, die unmittelbar über dem Leichenbestatter hing. Die Neonröhre zersplitterte nicht, aber die Lampe schwang wild an ihrer langen Kette; eine eisige Lichtklinge schnitt wie eine Sense bei der Ernte helle Bögen durch den Raum.
Obwohl Pinn sich zuerst nicht bewegte, sprang im rhythmischen Schwingen des Lichts sein Vogelscheuchenschatten andere Schatten an, die wie Amseln zurückflatterten. Dann steckte er die Pistole wieder ein.
Während die Kette der schwingenden Lampe sich drehte, schlugen die einzelnen Glieder mit soviel Reibung aneinander, daß sie ein unheimliches Klingeln verursachten, als schlügen eidechsenäugige Meßdiener in blutgetränkten Soutanen und Chorhemden die unmelodiösen Glocken einer Satansmesse.
Die schrille Musik und die umhertollenden Schatten schienen Jesse Pinn aufzuregen. Er stieß einen unmenschlichen Schrei aus, primitiv und psychotisch, eine Katzenmusik, wie sie einen manchmal mitten in der Nacht aufweckt und die einen dazu bringt, sich den Kopf über den Ursprung der Arten zu zerbrechen. Noch während dieser speichelreiche Schrei von seinen Lippen sprühte, hämmerte er dem Priester die Fäuste in den Leib, zwei harte Schläge.
Ich trat schnell hinter dem Laute spielenden Engel hervor und wollte die Glock ziehen, aber sie blieb am Futter meiner Jackentasche hängen.
Als Father Tom nach den beiden Schlägen zusammenklappte, verschränkte Pinn die Hände und knüppelte sie dem Priester auf den Nacken.
Father Tom fiel zu Boden, und ich bekam endlich die Pistole aus der Tasche.
Pinn trat dem Priester in die Rippen.
Ich hob die Glock, zielte auf Pinns Rücken und schaltete das Lasergerät ein. Als der tödliche rote Punkt zwischen seinen Schulterblättern erschien, wollte ich »Das reicht!« sagen, aber der Leichenbestatter ließ von dem Priester ab und trat zurück.
Ich bewahrte Schweigen, und Pinn sagte zu dem Priester: »Wenn du nicht Teil der Lösung bist, bist du Teil des Problems. Wenn du nicht Teil der Zukunft sein kannst, steh uns nicht im Weg, verdammt noch mal.«
Das klang nach einer Schlußbemerkung. Ich schaltete die Laserzielhilfe aus und zog mich hinter den Engel zurück, und im nächsten Augenblick wandte der Leichenbestatter sich von Father Tom ab. Er sah mich nicht.
Begleitet vom Singen der Ketten ging Jesse Pinn den Weg zurück, den er gekommen war, und das furcheinflößende Geräusch schien nicht von der Decke zu kommen, sondern von ihm, als schwärmten Heuschrecken in seinem Blut. Sein Schatten schoß ihm mehrmals voraus und sprang dann wieder hinter ihn, bis er an dem Krummschwert aus Licht, das von der Deckenlampe herrührte, vorbei war, eins mit der Dunkelheit wurde und um die Ecke in den anderen Arm des L-förmigen Raums bog.
Ich steckte die Glock wieder ein.
Aus der Deckung der unordentlichen Krippe beobachtete ich Father Tom Eliot. Er lag am Fuß der Treppe auf dem Boden, in der Fötusposition, krümmte sich im Schmerz.
Ich zog in Betracht, zu ihm zu gehen, um festzustellen, ob er ernsthaft verletzt war, und um soviel wie möglich über die Umstände hinter der Konfrontation herauszufinden, die ich gerade beobachtet hatte, aber ich zögerte, meine Anwesenheit zu enthüllen. Ich blieb, wo ich war.
Jeder Feind Jesse Pinns müßte eigentlich mein Verbündeter sein – ich konnte mir jedoch der guten Absichten Father Toms nicht sicher sein. Sie mochten zwar Widersacher sein, aber der Priester und der Leichenbestatter waren Spieler in irgendeiner geheimnisvollen Unterwelt, von der ich bis zu diesem Abend überhaupt
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