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Geschöpfe der Nacht

Geschöpfe der Nacht

Titel: Geschöpfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Geheimnisses.
    Mir war noch immer nicht klar, warum sie einem Engel mein Gesicht gegeben hatte. Wenn meine Züge überhaupt hierher gehörten, hätten sie einen Esel schmücken sollen. Sie hatte eindeutig eine höhere Meinung von mir gehabt, als ich es verdiente.
    Ungewollt stieg ein Bild von Angela vor meinem geistigen Auge auf: Angela, wie ich sie zuletzt auf dem Badezimmerboden gesehen hatte, die Augen auf einen letzten Anblick gerichtet, der weiter entfernt als das Sternbild Andromeda war, den Kopf in die Toilettenschüssel zurückgekippt, die Kehle aufgeschlitzt.
    Plötzlich war ich mir sicher, ein wichtiges Detail übersehen zu haben, als ich ihren armen, geschundenen Körper gefunden hatte. Angeekelt vom vielen Blut, von Trauer ergriffen, in einem Zustand des Schocks und der Furcht, hatte ich es vermieden, sie lange anzusehen – genau, wie ich es jahrelang vermieden hatte, die Figuren des hell beleuchteten Krippenbilds vor der Kirche zu betrachten. Ich hatte einen eminent wichtigen Hinweis gesehen, ihn aber nicht bewußt zur Kenntnis genommen. Nun verhöhnte mein Unterbewußtsein mich damit.
    Als Father Tom die oberste Stufe erreichte, brach er in heftiges Schluchzen aus. Er setzte sich auf den Treppenabsatz und weinte unbeherrscht.
    Ich konnte das geistige Bild von Angelas Gesicht nicht festhalten. Später würde noch genug Zeit sein, mich dieser GrandGuignol-Erinnerung zu stellen und sie zögernd zu erkunden.
    Vom Engel zum Kamel zum Weisen zu Josef zum Esel zur Heiligen Jungfrau zum Lamm zum Christuskind schlängelte ich mich leise zwischen den Krippenfiguren hindurch, dann vorbei an Aktenschränken und Kartons mit Vorräten, in den kleineren und schmaleren Raum, in dem kaum etwas stand, und weiter zur Tür des Heizungskellers.
    Die Geräusche der Qual des Priesters hallten von den Beton-wänden wider und wurden immer leiser, bis sie wie die Schreie einer klagenden Wesenheit klangen, die sich kaum durch die kalte Barriere zwischen dieser Welt und der nächsten verständlich machen konnte.
    Verbittert erinnerte ich mich an die schmerzliche Trauer meines Vaters im Kühlraum des Mercy Hospital, in der Nacht, in der meine Mutter starb.
    Aus Gründen, die ich nicht ganz verstehe, behalte ich mein eigenes Leid für mich. Wenn einer dieser wilden Schreie über meine Lippen zu kommen droht, kneife ich sie fest zusammen und schlucke die herausdrängenden Schreie unausgesprochen herunter.
    Manchmal knirsche ich im Schlaf so fest mit den Zähnen – wen könnte das überraschen? –, daß ich mitten in der Nacht mit schmerzenden Kiefern aufwache. Vielleicht habe ich Angst davor, in meinen Träumen den Gefühlen Ausdruck zu verleihen, die ich auch nicht äußere, wenn ich wach bin.
    Auf dem Weg durch den Keller der Kirche rechnete ich damit, daß der Leichenbestatter – wächsern und bleich, mit Augen wie ein paar Tage alte Blasen – sich von oben auf mich fallen lassen oder aus dem Schatten vor meinen Füßen in die Höhe schießen oder wie ein böser Schachtelteufel aus der Klappe eines Ofens springen würde. Aber er wartete nirgendwo auf mich.
    Draußen kam Orson zwischen den Grabsteinen hervor, hinter denen er sich offenbar vor Pinn versteckt hatte. Dem Verhalten des Hundes nach zu urteilen, war der Leichenbestatter fort.
    Orson sah mich mit großer Neugier an – zumindest bildete ich mir das ein –, und ich sagte: »Ich weiß wirklich nicht, was da unten passiert ist. Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat.«
    Er schien das zu bezweifeln. Er hat eine Begabung dafür, zweifelnd dreinzuschauen: das stumpfe Gesicht, der feste Blick.
    »Wirklich«, beharrte ich.
    Orson trottete neben mir her, als ich zu meinem Fahrrad zurückkehrte. Der Granitengel, der mein Transportmittel bewachte, ähnelte mir nicht im geringsten.
    Der mürrische Wind hatte sich wieder zu einer liebkosenden Brise gelegt, und die Eichen standen ganz still.
    Ein sich unablässig veränderndes Filigran aus Wolken zeichnete sich silbern vor dem silbernen Mond ab.
    Eine große Schar Mauersegler stieß vom Kirchendach hinab und setzte sich auf die Bäume, und auch ein paar Nachtigallen kehrten zurück, als sei der Friedhof nicht sicher gewesen, bis Pinn ihn verlassen hatte.
    Ich hielt das Fahrrad an der Lenkstange und betrachtete die Reihen der Grabsteine. ›»… das Dunkel wird fest um sie herum und verwandelt sich schließlich in Erde‹«, sagte ich. »Das hat Louise Glück geschrieben, eine große Dichterin.«
    Orson bellte leise, als wollte

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