Geschöpfe der Nacht
interessantere, als wir beide mit unseren flachen Gehirnpfannen es uns vorstellen können. Sechs Milliarden von uns wandeln auf dieser Welt, sechs Milliarden kleinere Welten auf der größeren. Schuhvertreter und Aushilfsköche, die von außen langweilig zu sein scheinen – manche von ihnen führen ein seltsameres Leben als du. Sechs Milliarden Geschichten, eine jede davon ein Epos, voller Tragik und Triumph, Gut und Böse, Verzweiflung und Hoffnung. Du und ich – wir sind gar nicht so was Besonderes, Bruder.«
Ich war kurz sprachlos. Dann zerrte ich am Ärmel seines Hemdes mit den Papageien und Palmwedeln. »Ich wußte gar nicht, daß du so ein Philosoph bist«, sagte ich.
Er zuckte die Achseln. »Dieses kleine Schmuckstück der Weisheit? Quatsch, das hab ich mal gelesen. War nur die eingebackene Weissagung in einem Glücksplätzchen.«
»Muß ja ein verdammt großes Plätzchen gewesen sein.«
»He, das war ein riesiger Monolith, du Trottel«, sagte er und bedachte mich mit einem vielsagenden Grinsen.
Die große Wand aus vom Mondlicht erhellten Nebel schwebte knapp einen Kilometer vor der Küste, nicht näher oder weiter entfernt als zuvor. Die Nachtluft war so still wie die in dem Kühlraum im Mercy Hospital.
Als wir die Verandatreppe heruntergingen, schoß niemand auf uns. Auch diese verrückten Schreie stieß niemand aus.
Aber sie waren noch da draußen, verbargen sich in den Dünen oder hinter der Kuppe des Hangs, der zum Strand abfiel. Ich spürte ihre Aufmerksamkeit so deutlich wie die gefährliche Energie, die in den Schuppen einer bewegungslos zusammengerollten, zum Zuschlagen bereiten Klapperschlange darauf wartet, freigesetzt zu werden.
Obwohl Bobby seine Schrotflinte im Haus gelassen hatte, war er wachsam. Er suchte die Nacht mit Blicken ab, während er mich zu meinem Fahrrad begleitete, und verriet auf einmal mehr Interesse an meiner Geschichte, als er zuvor eingestanden hatte: »Dieser Affe, den Angela erwähnt hat…«
»Was ist mit ihm?«
»Wie sah er aus?«
»Wie ein Affe.«
»Ein Schimpanse, ein Orang Utan oder was für einer?«
Ich ergriff die Lenkstange meines Fahrrads und drehte es um. »Es war ein Rhesusaffe«, sagte ich, während ich das Rad durch den weichen Sand schob. »Habe ich das nicht erzählt?«
»Wie groß?«
»Fünfzig, sechzig Zentimeter groß, hat Angela gesagt, vielleicht zehn, zwölf Kilo schwer.«
Er schaute über die Dünen. »Ich habe auch ein paar gesehen«, sagte er.
Überrascht lehnte ich das Fahrrad wieder gegen das Verandageländer. »Rhesusaffen?« sagte ich. »Hier draußen?«
»Irgendwelche Affen, etwa diese Größe.«
In Kalifornien kommen natürlich keine Affenarten vor. Die einzigen Primaten, die durch die Wälder und Felder des Landes ziehen, sind Menschen.
»Ich hab eines Abends einen erwischt, als er mich durch ein Fenster betrachtete«, sagte Bobby. »Als ich rausging, war er weg.«
»Wann war das?«
»Vor vielleicht drei Monaten.«
Orson trat zwischen uns, als wollte er getröstet werden.
»Hast du danach noch mal welche gesehen?« fragte ich.
»Sechs oder sieben Mal. Immer nachts. Sie tun ziemlich heimlich. Aber in letzter Zeit werden sie kühner. Sie bilden einen Trupp.«
»Einen Trupp?«
»Wölfe bilden ein Rudel. Pferde eine Herde. Bei Affen sagt man Trupp dazu.«
»Du hast dich ja informiert. Wieso hast du mir nichts davon erzählt?«
Er schwieg, beobachtete die Dünen.
Ich beobachtete sie ebenfalls. »Sind sie es jetzt, die da draußen lauern?«
»Vielleicht.«
»Aus wie vielen besteht dieser Trupp?«
»Keine Ahnung. Vielleicht sechs oder acht. Nur eine Vermutung.«
»Du hast eine Schrotflinte gekauft. Hältst du sie für gefährlich?«
»Vielleicht.«
»Hast du die Sache jemandem gemeldet? Einer Aufsichtsbehörde?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Er zögerte, antwortete mir nicht. »Pia treibt mich noch in den Wahnsinn«, sagte er dann statt dessen.
Pia Klick. Wollte einen oder zwei Monate in Waimea verbringen, ist jetzt fast drei Jahre dort.
Mir war nicht ganz klar, was Pia damit zu tun hatte, daß Bobby die Sache mit den Affen nicht gemeldet hatte, aber ich spürte, daß er die Verbindung herstellen würde.
»Sie behauptet, sie habe herausgefunden, daß sie die Reinkarnation von Kaha Huna ist«, sagte Bobby.
Kaha Huna ist die mythische hawaiianische Göttin des Surfens, die eigentlich niemals inkarniert gewesen und deshalb zu diesem »Re-« gar nicht fähig ist.
Wenn man in Betracht zog, daß Pia keine Kamaaina
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