Geschöpfe der Nacht
mir schwer, daran zu glauben. Vielleicht hat er seinerseits nie vermutet, daß jemand wie ich existieren könnte, und nun fällt es ihm genauso schwer, daran zu glauben.«
»Daß Sie am Projekt mitarbeiteten, war allgemein bekannt«, sagte Martin.
»Aber war allgemein bekannt, was ich bin?« sagte Rafe. »Niemand wußte das. Entschuldigen Sie, aber auch jetzt weiß es niemand, nicht einmal Sie. Der einzige Mensch, der wirklich verstehen könnte, was ich bin, müßte wie ich sein.«
Martin ließ seine Angel sinken und betrachtete ihn einen langen Augenblick.
»Die Welt«, sagte er endlich, »ist voll von Männern und Frauen, die sich vor dem Alten Mann vom Berg fürchten. Vor Ihnen fürchtet sich niemand, Rafe. Tut mir leid, aber ich glaube nicht, daß Sie der Übermensch sind, für den Sie sich halten.«
»Nein, ich glaube an Rafe«, widersprach Gabrielle. »Ich weiß, daß es in der Welt Böses gibt. Wenn Thebom Shankar der Mittelpunkt davon ist, dann muß es einen Mittelpunkt des Guten geben, der dem gegenübersteht. Und Rafe ist die einzige Person, die ich kenne, die das sein könnte.«
Martin beobachtete sie mit einem Ausdruck, in dem sich Verwunderung und Mißbilligung mischten.
»Sie reden ständig über das Gute und das Böse, als ob Sie noch bei den Kirchenvätern in die Schule gegangen wären«, sagte er. »Indem Sie diese Art von Schwarzweißmalerei betreiben, laufen Sie Gefahr, in den finstersten Aberglauben zurückzufallen. Nichts wird mich je überzeugen können, daß hinter dieser ganzen Geschichte etwas Übernatürliches verborgen ist.« Er wandte sich an Rafe. »Glauben Sie etwa dergleichen?«
»Nein. Nicht in so simpler Form«, sagte Rafe. »Aber wissen Sie, man kann von zwei wesentlichen Impulsen sprechen, die das menschliche Handeln beeinflussen. Der eine drängt das Individuum, mit seiner Gesellschaft und seinen Mitmenschen zu gehen, der andere drängt es, sich gegen sie aufzulehnen und seinen eigenen Weg zu gehen. Natürlich kann man nicht behaupten, das erste sei gut und das zweite böse; es könnte auch umgekehrt sein, weil es eben auf die Bedingungen ankommt, die in jedem Fall verschieden sind. Aber wenn wir diese Impulse auf theoretische Prinzipien reduzieren, dann könnten wir den ersteren gut und den letzteren böse nennen, wenn wir so wollten.«
»Sehen Sie«, sagte Martin zu Gabrielle. »›Gut‹ und ›böse‹ sind bloß bequeme Worte, mit denen man sich das Nachdenken erspart. Und darin liegt ihre Gefahr.«
»So hatte ich das nicht gemeint«, sagte Rafe. Martin blickte ihn scharf an.
»Wir mögen es mit etwas zu tun haben, das früher nicht möglich war, weil wir das nötige technologische Niveau noch nicht erreicht hatten«, sagte Rafe. »Vielleicht ist unsere Technologie gerade jetzt in eine Phase eingetreten, wo die reinen Impulse des Guten mit den reinen Impulsen des Bösen zusammenprallen können.«
»Meine Güte!« ächzte Martin und ließ verdrießlich seine Angelgerte fallen. »Jetzt fangen Sie auch noch damit an! Es gibt nichts dergleichen! Kein menschliches Wesen ist entweder nur gut oder nur böse …
»Es gibt Menschen, die bereit sind, die Rollen zu spielen«, sagte Rafe. »Es hat immer Leute gegeben, die Heilige sein wollten. Und es gab immer welche, die bereit waren, es mit schwarzer Magie zu versuchen oder sich Satan zu verschreiben.«
»Geistig Verkrüppelte und Verbitterte, ja – die letzteren, meine ich. Aber sie hatten niemals nennenswerten Einfluß auf ihre Umwelt«, sagte Martin.
»Haben Sie jemals von Aleister Crowley gehört, der sogenannten Großen Bestie?« fragte Gabrielle.
Martin dachte nach. »Crowley … ah, Sie meinen den, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts lebte, Kröten kreuzigte und sich den ›Bösesten Menschen der Welt‹ nannte?« sagte er. »Der Mann litt einfach an krankhafter Geltungssucht, sehen Sie das nicht? Ein Fall für den Psychiater, weiter nichts. Er starb als Drogensüchtiger, nicht wahr?«
»Aber solange er lebte, beeinflußte er eine Anzahl von Menschen in seiner Umgebung«, erwiderte Gabrielle. »Und er war nicht einzigartig. Ich erinnere mich, daß Ab einmal sagte: ›Irgendwo auf der Welt gibt es immer einen Crowley‹.«
Martin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Gewiß. Ich möchte sogar vermuten, daß es zu jeder gegebenen Zeit Hunderte von solchen Spinnern gibt. Aber diese Leute sind Kranke, arme Teufel, denen man helfen sollte. Jedenfalls eignen sie sich nicht als Beweise für die Existenz des
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