Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)
Straße hinab, einfach hinab, einem leichten Gefälle folgend. Er lief längs des Stadtwalds, dann am Alfredusbad vorbei, er sah Menschen hinter Fensterscheiben Kaffee trinken, sah sie aus einem Supermarkt treten, sich auf der Straße streiten. Normale Menschen mit normalen Gewohnheiten. Er lief immer weiter, bis er nicht mehr sagen konnte, wie das Viertel hieß, in dem er sich befand. Ein muffiger Geruch, wie von Textilien, die man noch klamm in den Wäscheschrank legte. An den Rändern seines Sichtfeldes wuchsen die Gebäude zusammen, die Straße verengte sich zu einem Fluchtpunkt, der keine Flucht bot. Vor ihm führte eine breite asphaltierte Schneise durch das Wohngebiet.
Kurt blieb unter der Brücke stehen, starrte auf verschmierte Garagentore und fleckige Hauswände. Für einen Moment vergaß er seinen Vater, das verklebte Haar, den unruhigen Atem. Hier hatte niemand einen Namen. So jedenfalls stellte es sich Kurt vor, unter dem Lärm einer Hochstraße. Am Straßenrand parkten ramponierte Autos, aus Ersatzteilen zusammengesetzt, und an den Häusern bröckelte der Kitt aus den Fugen. Kurt Tietjen sah auf die Fensterreihen.
XII
Am 1. November, knapp ein halbes Jahr nach Kurts Fortgang, bezog Luise sein Büro. Sie übernahm seine Sekretärin, sie übernahm seinen Stundenplan, sie übernahm seine Geschäftsfreunde. Die Tage hinter Kurts Schreibtisch fühlten sich beklemmend an, als trüge sie den Anzug eines Toten.
Der erste große Termin, den sie allein als stellvertretende Geschäftsführerin der Firma Tietjen und Söhne zu absolvieren hatte, fand in einem Tagungshotel in der Nähe von Köln statt. Es war ein Treffen der nordrhein-westfälischen Textilindustrie, Luise war ganz offensichtlich die Jüngste im Raum und die einzige Frau obendrein, selbst der Cateringservice hatte an diesem Tag nur Männer geschickt. Einer von ihnen zwinkerte ihr zu, sie ignorierte ihn. Niemand sonst beachtete sie. Einige standen zu zweit, andere hatten sich zu Grüppchen sortiert, alle kannten sich.
Luise war froh, als endlich der Beginn der Sitzung angekündigt wurde und die Teilnehmer sich einen Platz am Konferenztisch suchten. Neben ihr saß ein Mann Mitte vierzig, der sie keines Blickes würdigte, allerdings auch nicht dem Geschehen vor dem Clipboard folgte, sondern mit manischer Geschwindigkeit E-Mails auf seinem Notebook beantwortete. Zwischendurch spielte er eine Runde Solitär, dann schrieb er wieder E-Mails. Luise machte sein Getippe nervös, sie konnte sich nicht auf den Vortrag konzentrieren, vielleicht verstand sie auch zu wenig vom Frotteegeschäft, um den Ausführungen zu folgen.
In der Kaffeepause lagen die Teilnehmer wie lungenkranke Kurgäste in den Liegestühlen des Wintergartens und starrten durch das Panoramafenster auf das hügelige Umland. Es war eine weite, nur mit vereinzelten Einfamilienhäusern bebaute Landschaft. Kurz kam die Sonne hinter den Wolken hervor, Luise atmete tief ein, aber es half nichts.
Für die zweite Sitzung suchte sie sich einen neuen Platz, so weit wie möglich vom E-Mail-Schreiber entfernt. Ein Mann im Alter ihres Vaters setzte sich neben sie und nickte ihr zu.
Darf ich? Winfried Maxweld von der Schermerhorn AG.
Er reichte ihr die Hand, und Luise war dankbar, dass jemand sie wahrnahm.
Ich bin für Tietjen und Söhne hier, stellte sie sich vor.
Ihr Nachbar schmunzelte und schenkte ihr Kaffee ein. Na, Sie wird es wohl auch nicht lange in dieser Branche halten.
Weshalb?
Junge Frau, Sie haben sich nicht gerade den Leitstern für Ihr Praktikum ausgesucht. Oder Ihre Assistenzstelle oder was Sie da für Werner Kettler machen.
Entschuldigen Sie, ich bin Luise Tietjen.
Das freut mich. Und was genau soll mir das sagen?
Dass ich die Firma Tietjen und Söhne leite.
Leiten? Oh ja, natürlich.
Maxweld wandte sich zu seinem Nebenmann und flüsterte ihm etwas zu. Dieser beugte sich vor, musterte Luise. Ach, das ist ja niedlich, sagte er halblaut zu Maxweld. Dann redeten sie in normaler Lautstärke über einen Mann, von dem Luise noch nie gehört hatte und der im kommenden Jahr die Leitung einer Institution übernehmen sollte, die sie ebenso wenig kannte.
Am Abend reichten die Angestellten des Cateringunternehmens Tabletts mit Sektgläsern herum, damit die Teilnehmer auf den erfolgreichen Tag anstoßen konnten. Wieder zwinkerte ihr der Kellner zu, Luise hätte ihm am liebsten ihren Sekt ins Gesicht geschüttet. Stattdessen nahm sie ein zweites Glas und trank es in einem Zug aus. Der
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