Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)
sie aus der Ferne. Es entging ihm nicht, dass sie in der Schule Bestleistungen erzielte, aber er sagte nichts dazu. Er wollte nicht, dass sie so seine Aufmerksamkeit zu gewinnen versuchte, er wollte nicht, dass sie das glaubte, woran sein Vater ihn zu glauben gedrängt hatte. In den Ferien, wenn sie ein wenig Zeit zu dritt verbrachten, las sie unermüdlich, und er stellte sich vor, dass sie einmal stolz und trotzig wie Horkheimer die Firma beiseiteschieben und Philosophin werden würde. Zum ersten Mal näherte er sich ihr ein wenig an, schenkte ihr Bücher, die er selbst gern gründlicher gelesen hätte, aber später fragte er sie doch nicht, was sie von ihnen gehalten hatte.
Nachdem sie die Schule abgeschlossen hatte, tauchte sie manchmal in der Firma auf, ging mit ungerührtem Blick durch die Flure, unterhielt sich mit den Angestellten, mit Werner, es gefiel Kurt nicht, dass sie dort war. Sie wirkte schwächelos, ein geschmeidiger Panzer. Luise brachte eine Vitalität in die Firma hinein, die dort schon lange nicht mehr zu spüren war. Er begann von neuem Angst vor ihr zu haben, weil er glaubte, dass sie ihm überlegen war, und er fürchtete sich vor ihrer Gleichgültigkeit, wenn sie an seinem Büro vorbeikam und nur kurz innehielt, um ihn zu grüßen.
Als sein Vater im Frühjahr 1991, sechsundsiebzigjährig, gestorben war, blieb von der Firma ein Verbund aus leblosen Frotteebahnen und verschlissenen Zahlen übrig, der seit Jahren im wirtschaftlichen Jenseits, zwischen Verlustgeschäften und neuen Verbindlichkeiten vegetierte.
Kurt Tietjen war im Herbst achtunddreißig Jahre alt geworden, es war der Herbst der gemeinsamen New-York-Reise, und er hatte gewusst, dass sein Vater bald sterben würde, zumindest hatte er es befürchtet, er befürchtete es seit dem Prozess. In einer Verhandlungspause, auf dem Gerichtsgang, hatte der Senior es ihm ins Gesicht gesagt: Dass es vorbei sei, und er meine nicht nur zwischen ihnen beiden, es sei vorbei mit ihm, Kurt senior, sein eigener Sohn habe ihn ins Grab gebracht, er beglückwünsche ihn, wenn er auch sonst nicht viel hinbekommen habe in seinem Leben, das immerhin sei ihm mit Bravour gelungen.
Eines wusste Kurt Tietjen genau: Er konnte das Erbe nicht ablehnen, selbst wenn es rechtlich möglich war. Recht war etwas für Menschen, die noch daran glaubten, dass man alles regeln konnte, die nicht einsahen, dass es nicht um Recht oder Unrecht ging, sondern darum, wer am längsten auf seinem Standpunkt beharrte.
Hätte er verkaufen sollen? Vielleicht. Das dachte er heute, wenn er auch wusste, dass es unrealistisch war. Werner hatte die Preise für die Tietjen’schen Anteile in den Keller getrieben, er hatte Gerüchte gestreut, falsche Zahlen in Umlauf gebracht und ein lukratives Geschäft platzenlassen. Er musste Kurts Absichten geahnt haben, das dachte Kurt im Nachhinein, Werner hatte ihn an die Firma gebunden, weil Kurt für Werner angenehmer war als ein neuer Partner. Werner kannte Kurts Schwächen. Er wusste, wie man mit einem Tietjen umging, wie man ihn abrichtete, wie man ihn zähmte. Er war immer Nutznießer der Tietjens gewesen, der Senior hatte ihn in die Geschäftsführung geholt, und Kurt hatte nicht die Kraft, ihn zu entlassen. Wäre Kurt gegangen, hätte vielleicht auch Werner gehen müssen, er war nicht gut genug, um sich gegen echte Konkurrenz zu behaupten.
Nein, Kurt hätte das Unternehmen damals nicht verkaufen können. Konnte man nicht zu einem guten Preis verkaufen, konnte man gar nicht verkaufen, und sein Schwager hatte dafür gesorgt, dass der Preis nicht gut war. Man hätte sich den Mund über Kurt zerrissen. Und so hatte er Abstand davon genommen, seine Anteile zu veräußern. Er hatte sich in die Gegebenheiten gefügt, still, wie er seit je war, beherrscht und müde.
Kurt hatte befürchtet, dass sein Vater sterben würde, aber er hatte diese Furcht nicht ernst genommen. Sein Vater war ein Mensch, der jenseits von Schwäche existierte, genau genommen jenseits von Zeit. Die Gefahr, dass sein Vater starb, schien ihm geringer als die Gefahr, dass die Welt plötzlich unterging. Und dann, eines Novembernachmittags im Jahr 1990, wurde die Gefahr plötzlich greifbar.
Sie hatten sich in einem Café verabredet, das von einer polnischen Familie betrieben wurde, zwischen stillgelegten Zechen und Lagerhallen. Kurt hatte auf einem Klappstuhl gewartet, ein wackeliges Modell, dessen Farbe schon weitgehend abgesplittert war. Der Blick des kindlichen Kellners
Weitere Kostenlose Bücher