Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)
aufrecht hin. Ich möchte, dass Werner keinen Einfluss mehr hat. So wenig Einfluss wie möglich.
Er sitzt ziemlich sicher auf seinem Posten.
Dann muss er über irgendwas stolpern. Er hat so viele Fehler gemacht, es muss doch möglich sein, dass er über einen davon fällt. Sie warf die Decke beiseite und fixierte Krays mit ihrem Blick. Bekommen wir das hin, Krays?
Er ging im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor ihrem Schreibtisch stehen, tippte auf der Tastatur herum, obwohl der Computer nicht eingeschaltet war. Nach einer Weile hielt er inne und sagte leise: Ja, Luise, wir bekommen das hin. Es klang nicht zuversichtlich. Es klang wie etwas, das man nicht verhindern kann.
2010 hatte die Firma Tietjen ihren Tiefpunkt erreicht. Krays und Luise gingen vorsichtig an die Schulden heran, die Kurt und Werner an verschiedenen Stellen und anscheinend ohne gegenseitige Absprachen immer weiter in die Höhe getrieben hatten. Sie mussten sich die Schulden ansehen und sie zugleich kaschieren. Wären sie auch nur einen Augenblick unaufmerksam gewesen, wäre alles zusammengebrochen. Luise und Krays arbeiteten neue Verträge aus, Verträge mit den Angestellten, den Zulieferern, den Kunden, mit den Gläubigern, und mit jedem neuen Vertrag bremsten sie den freien Fall der Firma Tietjen ein wenig ab.
Lange hatte Luise Tietjen an nichts geglaubt, weder an Stoffe noch an Menschen, nicht einmal an Geld, denn an Geld zu glauben gelingt nur jenen, die nicht zu viel davon besitzen. Weder an den Namen Tietjen hatte sie geglaubt noch an die Personen, die sich dahinter verbargen. Sie war daran gewöhnt, dass nichts von Bestand war, alles löste sich irgendwann auf und verschwand. In jenem Jahr, in dem ihr Vater aus Essen geflohen war, wusste Luise endlich, woran sie glaubte. Luise Tietjen glaubte an Verträge. Mit Hilfe von Verträgen und durch nichts anderes kamen Menschen miteinander aus. Menschen waren freundlich zueinander, aber niemals verbindlich, sie waren sich so lange zugewandt, wie sie fürchteten, der andere könne stärker sein als sie selbst. Verträge hielten ihre Versprechen, sie waren das, was sie waren, während Menschen immer mehr sein wollten, als sie vertrugen.
2010 war auch das Jahr, in dem Luise glaubte, eine neue Ära einläuten zu können. Sie siebte die Geschäftsfreunde ihres Vaters aus, die wie alter Sand aus dem Adressbuch rieselten, ließ ihren Stundenplan neu aufstellen und erkundigte sich über das Privatleben ihrer wichtigsten Angestellten. Sie setzte sich mit ihnen zu Gesprächen zusammen, in denen es nicht nur um die Firma, sondern auch um ihre persönlichen Belange ging. Luise nahm, so schien es, Anteil am Leben ihrer Mitarbeiter. Sie kannte die Namen der Ehemänner, erkundigte sich nach den Kindern, versprach flexiblere Arbeitszeiten und forderte Überstunden so sanft ein, dass ihre Mitarbeiter glaubten, sie entschieden sich freiwillig dafür.
Luise hatte nicht vor, sich kampflos zu ergeben. Kampflos hatte sie bereits ihren Vater verschwinden lassen, das Unternehmen würde sie nicht hergeben. Sie würde es aus den Schulden herausziehen, es wieder mit Leben erfüllen, ehe die Mitarbeiter, die Banken, die Zulieferer, die Großhändler, Hotels und Medien, ehe sie alle begriffen, dass die Firma Tietjen und Söhne nur noch eine Schimäre war.
Nach ihrem ersten New Yorker Treffen mit Kurt hatte sie sich in die Arbeit gestürzt, bis sie vergessen hatte, dass es eine Welt außerhalb der Firma gab. Ein Tag war erst genug, wenn sie alles gegeben hatte, alles andere wäre eine Ausrede gewesen, und Ausreden hatte sie genug gehört. Sie spürte keine Überlastung, sondern das rauschhafte Gefühl von Beschleunigung. Sie wartete nicht mehr darauf, dass ihr Leben begänne, sondern trieb es selbst voran. Es fühlte sich richtig an. Ihre Arbeit war ein Teil von ihr, jener Teil, den man ihr jahrelang vorenthalten hatte. Je mehr sie arbeitete, je länger sie standhielt, je mehr sie in die Angelegenheiten der Firma eindrang, desto stärker wurde der Sog. Ein Rausch. Eine Sucht. Luise wuchs. Sie wuchs weit über sich hinaus.
Krays erschien ihr zunehmend blass daneben, er verlor seinen Reiz für sie. Früher war sie in seiner Wohnung vor ihrer Familie in Deckung gegangen, jetzt wurde sie unruhig, sobald sie sein Treppenhaus betrat. In der Firma kamen sie gut miteinander aus, aber wenn sie sich in privater Umgebung trafen, wurde sie gereizt. Sie hatte keine Zeit zu verlieren, verlor zu viel davon, wenn sie bei ihm war,
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