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Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Titel: Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Bossong
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Tochter, er dachte ganz sicher nicht jetzt an sie, da Fanny sich vor ihn hockte, ihr Gesicht zu seinem Bauchnabel herabbeugte, seine Hose öffnete und mit ihrer Zunge durch sein Schamhaar fuhr. Ein Wiedergutmachungsversuch, nicht mehr. Er atmete ein, blickte auf ihren Kopf herunter, die gelben Haare, sie war das Gegenteil von seiner Tochter, dachte er, ließ sich auf den Stuhl zurücksinken, sah ihr Haar, all das Gelb. Er schloss kurz die Augen, öffnete sie, Fanny reckte sich wieder hoch, er sah ihr ins Gesicht, verächtlich. Da saß sie vor ihm, reglos, ihre Hände im Schoß gefaltet, ein mageres Nichts aus Pennsylvania.
     
    In China hatte er Menschen an den Straßenrändern hocken sehen, die ihm wie Gegenstände aus einem Kuriositätenkabinett vorgekommen waren. Sie legten ihre zerfressenen Beine in die Sonne und ließen die Fliegen auf dem Wundbrand nach Nahrung suchen. Sie hatten ihre Kinder angeleint. Die Hitze lag in den Fugen der Häuser, auf den Mauern, in den Blicken der Menschen. Die Hitze flimmerte auf den schlecht befestigten Gassen, die hinter den Prachtstraßen entlangführten, durch das Innenleben der Stadt, die Hitze moderte auf dem Fähranleger, der das Land an die Stadt band, auf der Uferstraße, auf der unzählige Autos fuhren. Kurt hätte gern herbstliche Temperaturen gehabt, dunkle, von tief fallendem Licht angestrahlte Wolken, alles in einen Halbschatten gedrückt, den man von historischen Momenten erwartet, einem Kriegsbeginn oder einer Hyperinflation.
    Aber auch solche Ereignisse fanden mitunter bei blauem Himmel statt. Das Wetter unterschied nicht zwischen Ereignissen, nur zwischen Windstärken und Luftdruckgebieten, das war möglicherweise der größere Fauxpas. Kurt Tietjen war im September sechsundfünfzig Jahre alt geworden, ein Alter, in dem man möglicherweise anfällig ist für Krisen. Daran versuchte er zu denken, doch es half nichts, er wurde das Gefühl nicht los, verloren zu sein.
    Gustav hatte ihn im Stich gelassen. Nach einem hastigen Frühstück, bei dem er kaum von seinen Papieren aufgeblickt hatte, war er umgehend in sein Hotelzimmer zurückgekehrt. Kurt solle sich die Gegend ansehen, hatte Gustav ihm noch geraten, das sei gewiss lohnend. Gern würde er selber, nur leider, die Studie, was solle man machen, aber er wünsche ihm einen schönen Tag.
    Nun hatte Kurt niemanden mehr, der ihm half, sich zurechtzufinden. Das Fehlen lateinischer Buchstaben versperrte ihm den Blick auf die Stadt, und seine Orientierung breitete sich nur schwerfällig Block um Block aus. Die in Verkaufsparzellen aufgeteilten Häuser. Kuchen, Fleischspieße, Elektronik. Vor den größeren Geschäften hielten ihm Händler gebrannte DVDs in Klarsichthüllen entgegen. Die melancholische Straße, hatte Gustav sie genannt.
    Weshalb sie so heiße, hatte Kurt sich erkundigt und an trauernde Menschenzüge gedacht, blutige Splitter der Kulturrevolution, unzählige Genossen, die in schwermütigem Gleichschritt die Straße hinuntermarschierten.
    Weil es hier so viele Elektrogeschäfte gibt, hatte Gustav ihm geantwortet. Kurt hatte nicht begriffen, wo der Zusammenhang bestand. Dann war ihm klar geworden, dass er Gustav falsch verstanden hatte, dass er nicht von der melancholischen, sondern von der elektronischen Straße sprach. China war kein trauerndes Land, fürs Trauern hatte man hier keine Zeit. China war ein Land der Dioden, Elektroden und des piepsenden Elektroschrotts. Das hätte er wissen müssen, das wusste er doch.
    Am Abend traf er Gustav in einem Restaurant neben dem Hotel, es waren Gustavs letzte Stunden in der Stadt, in den frühen Morgenstunden fuhr der Zug, der ihn in die Nachbarprovinz bringen sollte, zur nächsten Fabrik. Kurt erkundigte sich, wie es voranginge. Oh, sehr gut ging es voran. Was sollte er auch sagen, dachte Kurt, immer ging es sehr gut, wenn nicht hervorragend.
    Ich habe übrigens eine Zulieferfirma für Textilien, wie soll ich mich ausdrücken?, erklärte Gustav, während eine zierliche Frau Pekingente auf ihre Teller verteilte. Ich habe sie auf meiner Liste, sagte er. Morgen werde ich diesen Betrieb besuchen, der Sie interessieren wird. Ich habe ein wenig recherchiert. Berufsneurose. Gustav lachte, Kurt verstand nicht, warum.
    Darf man in ein Land wie China investieren? Was ist Ihre Meinung?, fragte Gustav mit einem Eifer, der Kurt umgehend ermüden ließ.
    Dürfen?, dachte Kurt. Warum sollte gerade er wissen, was man durfte?
    Jedenfalls sollte man es wohl nicht so anstellen wie

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