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Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Titel: Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Bossong
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die Firma Tietjen, fügte Gustav hinzu.
    Was meinen Sie damit?, fragte Kurt.
    Tietjen und Söhne ließ, wie er an jenem Abend von Gustav erfuhr, chinesische Arbeiter mit Chemikalien arbeiten, von denen bekannt war, dass sie nicht nur giftig, sondern hochgradig krebserregend waren. Die Firma Tietjen hatte einer Fabrik den Zuschlag gegeben, die dafür bekannt war, dass dort die schlechtesten Löhne der ganzen Region bezahlt wurden. Obwohl sich mittlerweile herumgesprochen hatte, dass es den Vorarbeitern erlaubt war, handgreiflich zu werden, hatte Tietjen und Söhne den Vertrag verlängert. Vor einigen Monaten hatte es zudem einen Todesfall gegeben – aber natürlich, wandte Gustav ein, Sie werden dagegenhalten, dass es nicht die erste chinesische Fabrik ist, in der so etwas passiert. Ob Sie es glauben oder nicht, es soll auch hier noch Fabriken geben, in denen niemand zu Tode kommt. Wieder lachte er. Wieder verstand Kurt nicht, warum.
    Ein Arbeiter war vom Dach der Wohnbaracken in den Tod gesprungen, sein Mobiltelefon, einziger Besitz von Wert, hatte er in der Hand gehalten, als er auf dem Steinboden aufgeschlagen war. Das Adressbuch enthielt, wie sich später herausstellte, keine einzige Nummer.
    Das ist letzten Herbst passiert. Seitdem soll es zu keinen weiteren Vorkommnissen gekommen sein. Aber wer weiß, wie es sich tatsächlich verhält, meinte Gustav. Meistens schlechter, als ich es erwarte.
    Kurt rückte ein wenig vom Tisch ab, ihm war plötzlich, als rieche er Gustavs Schweiß, alten, zwiebeligen Männerschweiß, der nicht zu dem jungen Mann passte.
    Wollen Sie nicht mitkommen?, fragte Gustav. Es wäre für Sie sicher interessant, den Betrieb zu sehen, in dem Sie produzieren lassen.
    Dass er für den nächsten Tag seine Rückfahrt plane, erklärte Kurt. Ihm war nicht nach Reisen zumute. Ihm war nicht einmal danach zumute, anwesend zu sein.
    Haben Sie schon ein Zugticket? Nein? Dann werden Sie nicht nach Schanghai kommen. Nationalfeiertag. Morgen ist halb China unterwegs.
    Kurt sackte unmerklich in sich zusammen. Er wollte zurück, so schnell wie möglich. Zurück nach Schanghai, zurück nach Europa. Doch er hatte das Geschehen nicht mehr in der Hand, er konnte sich aufbäumen, es würde nichts bewirken.
    Was sollte es. Wohin wollte er überhaupt? Zurück in die Firma? Er liefe in seinem Essener Haus umher, lenkte sich mit Unterlagen ab, die ihn nicht interessierten, und hoffte, dass es ihn diesmal nicht erwischen würde, dass er nicht wieder in die Lethargie fallen würde, die ihn nach jeder Reise regelmäßig in Beschlag nahm. Er würde auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer liegen und beten, dass niemand die Tür öffnete, dass niemand sähe, wie er hier, unfähig zu jeglicher Bewegung, zerschlagen, zerbrochen, ausharrte, bis der Zustand vorüber war. Währenddessen gingen in seinem Büro Anrufe und Faxe ein, Mitarbeiter klopften an: Wo in der kommenden Saison Anzeigen zu schalten seien, ob man den Nettoverkaufspreis der Bademäntel noch in diesem Jahr erhöhen dürfe, wann er am Freitagabend zum Eröffnungskonzert in der Philharmonie gebracht werden wolle. Entschlüsse mussten gefasst werden, und Kurt zögerte alles hinaus, weil ihm jede noch so kleine Entscheidung zu gewichtig erschien, um sie jemals befriedigend fällen zu können.
    W.W. war anders gewesen. Er hatte die Dinge mit seinen massiven Händen angepackt und so vor sich aufgereiht, dass er sie nicht nur ertrug, sondern dass sie ihm sogar angenehm schienen. Sieh mal, Tietjen, wenn wir uns hierhin verlagern, und zwar bevor es alle anderen tun, dann können wir noch günstige Konditionen aushandeln. W.W. hatte die Gabe, alles in Zahlen zu verwandeln, und die Frage war nicht mehr, ob eine Handlung gut oder schlecht war, sondern ob sie 1000 oder 50000 einbrachte. Zahlen waren gesichtslos, Zahlen existierten nur in der Phantasie, Zahlen hatten keine Geschichte.
    Alex verabschiedete sich frühzeitig an jenem Abend, er wollte in den Morgenstunden weiterreisen. Kurt blieb allein im Lokal, bestellte einen Wein, fühlte sich beobachtet, fühlte sich fehl am Platz. Er verlangte die Rechnung und beeilte sich hinauszukommen.
    Er trat auf die heiße, von Abgasen verpestete Straße. Autos hupten, Menschen zogen an ihm vorbei, spuckten auf den Bordstein, redeten ununterbrochen. Die fremden Laute umhüllten ihn und schlossen ihn aus. Ein Kind mit geschlitzter Hose wurde zum Urinieren über eine Mülltonne gehalten. Als es Kurt sah, verzog es das Gesicht. Kurt

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