Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)
weinen.
»Das hast du aber!«, schrie ich.
Seine Schultern bebten, während er weinte, aber ich empfand kein Mitleid mit ihm. Nur Erleichterung, als er hinausging. Dann knallte die Vordertür ins Schloss, heftig genug, dass die Bilder an der Wand wackelten.
»Warum hast du das getan?« Sie packte mich an den Schultern und schüttelte mich. »Das ging dich gar nichts an, Ember. Es ging dich nichts an! Was in meinem Leben vorgeht …«
Ich wartete nicht ab, was sie noch zu sagen hatte, sondern rannte in mein Zimmer, versteckte mich unter der Decke und weinte, bis der Strom ausgeschaltet wurde und sich der Himmel draußen schwarz verfärbte. Bis der Boden unter ihrem Gewicht knarzte und sie sich neben mir zusammenrollte.
»Du hast vor gar nichts Angst, was?«, flüsterte sie.
Da war nichts mehr in meinem Zimmer. All meine Sachen, das Bett, in dem ich geschlafen hatte, seit ich alt genug gewesen war, ein eigenes Bett zu haben, mein Bücherregal mit all den abgegriffenen Büchern, die Kommode mit den goldenen Griffen, die meine Mutter auf einem Garagenverkauf ergattert hatte, alles fort. Hatten sie die Sachen einfach auf den Müll geworfen? Sie gespendet? Das waren meine Sachen. Das waren die einzigen Dinge, die mir von meiner Mutter geblieben waren. Und von meinem eigenen Leben. Warum hatten sie gleich alles mitnehmen müssen?
»Steht ihr irgendwie unter Beobachtung, Stephen?«, hörte ich Chase fragen, als er den Mann zurück zur Küche führte.
Ich drehte mich um und sah Beth mit einer Papiertüte gleich an der Tür stehen. Nie in meinem Leben hatte ich sie ängstlich erlebt, und die Erkenntnis, dass ich ihr Angst eingejagt hatte, tat weh. Ich konnte ihr nicht vorwerfen, dass sie nicht meine Mutter war. Ich konnte ihr nicht einmal vorwerfen, dass sie nicht ahnte, in welcher Gefahr sie schwebte. Das war definitiv etwas, das man erleben musste, um es zu glauben.
»Em-Ember«, stammelte sie. »Warum hast du eine Waffe?«
Ich hatte ganz vergessen, dass sie in meinem Rücken im Rockbund steckte. Nun, da Beth hinter mir stand, hatte sie sie natürlich gesehen.
»Das ist nichts«, sagte ich hastig. »Sie gehört nicht mal mir. Sie gehört Chase.«
»Oh«, machte sie gedehnt, und ich sah, wie das Weiß ihrer Augen im Schein der Taschenlampe aufleuchtete. »Ich, äh, ich habe beinahe eine Tonne Lebensmittel für Stephen hergeschleppt, für den Fall, dass noch mehr Leute kommen, aber in den letzten paar Tagen ist niemand mehr aufgetaucht.« Sie stellte die Papiertüte auf dem Boden zwischen uns ab, als wollte sie einem wilden Tier ein Stück Fleisch anbieten.
Ich ging in die Knie und riss eine Packung Cracker und ein Glas mit Erdnussbutter auf. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie ausgehungert ich war.
Beth wich zur Tür zurück. »Ich habe was ganz Verrücktes gehört. Wusstest du, dass es heißt, du würdest diesen Kerl kennen, der, na ja, der all diese Leute umgebracht hat?« So, wie sie das sagte, war ich nicht so sicher, ob sie es wirklich für verrückt hielt.
»Hab davon gehört.« Ich zwang mich, die Cracker wegzulegen.
»Die haben dein Foto vor zwei Tagen zusammen mit denen von vier anderen Leuten im Mini-Mart aufgehängt«, erzählte sie. »Und darunter ist ein großes Schild, auf dem steht: Haben Sie diese Person gesehen? Niemand in der Schule kann das glauben. Na ja, Marty Steiner und ihre Truppe schon, aber du kennst sie ja, die sind fürchterliche Klatschbasen.«
Es fiel mir schwer, mir Marty Steiners Bild ins Gedächtnis zu rufen. Ich konnte mich nicht einmal mehr an eine Welt erinnern, in der die Macht der Klatschbasen die Brutalität bewaffneter Soldaten aufgewogen hatte.
Mir wurde bewusst, dass ich mit Beth reden musste, um ihre Furcht zu besänftigen, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wurde sie geschnappt und von der MM zum Reden gezwungen, würde sie viel zu viele Dinge wissen, die sie besser nicht wissen sollte. Ich dachte an Tubman, den Schleuser aus Knoxville. Es war klug von ihm, dass er die Namen der Leute gar nicht wissen wollte. Beinahe wünschte ich mir, wir wären Beth gar nicht begegnet, aber der eigennützige Teil in mir war froh darüber.
»Ich kann dir nicht alles erzählen«, gestand ich offen ein.
»Du bist meine beste Freundin.« Beth legte die Stirn in Falten. »Zumindest warst du das. Du verhältst dich wirklich sonderbar.«
»Ich weiß.« Aber so einfach war das nicht. Sonderbar war in meinem Dasein an die Stelle jeglicher Normalität getreten. Jedes
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