Gesetze der Lust
gesunde Achtzehnjährige mit niedrigem Cholesterinwert, niedrigem Blutdruck und leichtem Heuschnupfen. Das einzig Interessante war, dass die junge Eleanor sich geweigert hatte, einer gynäkologischen Untersuchung zuzustimmen. Diese kleine Randnotiz stellte Suzanne die Nackenhaare auf. Warum hatte sie sich verweigert? Sofort hatte Suzanne das Schlimmste angenommen: sexuell übertragbare Krankheiten … Schwangerschaft. Vielleicht Hinweise auf eine Abtreibung. Aber ein paar Seiten weiter fand sie etwas, das ihre düsteren Theorien in Luft aufgehen ließ. Mit neunzehn Jahren hatte Eleanor Schreiber offensichtlich eines Abends zu viel gefeiert und betrunken das Bewusstsein verloren. Als sie irgendwann die Augen aufschlug, fand sie sich unter einem Verbindungsstudenten wieder. Die Akte enthielt Aufzeichnungen der Krisenberaterin für Vergewaltigungsopfer, die vor, während und nach den Untersuchungen mit Eleanor gesprochen hatte. Offensichtlich war die Frau in dieser Nacht aber nicht sonderlich weit gekommen, wie die Aufzeichnung verriet:
Patientin bezweifelt, dass der junge Mann in sie eingedrungen sein könnte. Sie behauptet, sie hätte sich während der versuchten Vergewaltigung wiederholt auf ihren Angreifer übergeben. Die Patientin wurde entlassen, nachdem ihr Priester, Father Marcus Stearns, eingetroffen war. Die Patientin verschließt eindeutig die Augen vor der Wahrheit .
Aber die junge Eleanor hatte die Augen nicht vor der Wahrheit verschlossen. Die Resultate der körperlichen Untersuchung zeigten nicht nur keinerlei Anzeichen von Verletzungen oder Flüssigkeiten, sondern auch ein intaktes Jungfernhäutchen. Mit neunzehn Jahren war Eleanor Schreiber immer noch Jungfrau gewesen. Suzanne wusste, dass sie ab hier nicht hätte weiterlesen sollen. Die Krankenakte einer anderen Frau zu lesen war ein ziemlich ernster Eingriff in ihre Privatsphäre, und sie ertrug es kaum, die Akte auch nur in Händen zu halten. Und trotzdem konnte sie nicht aufhören, selbst als sie erfahren hatte, dass Nora als Teenager nicht die Geliebte von Father Stearns oder sonst irgendjemandem gewesen war.
Nach Eleanors zwanzigstem Geburtstag wurde es noch interessanter. Aus irgendeinem Grund suchte sie für alle medizinischen Belange keinen Hausarzt und keinen Gynäkologen auf, sondern Dr. William Jonas, einen Internisten am Central Hospital in Connecticut. Und für eine junge Frau, die keinerlei Sport trieb, schien Eleanor eine erschreckende Menge an kleineren Verletzungen davonzutragen – ein verstauchtes Handgelenk, eine Rippenprellung, sogar vaginale Risse. Für Suzanne waren das eindeutige Zeichen, dass Eleanor Anfang zwanzig in einer missbräuchlichen Beziehung gesteckt hatte. Und doch behandelte Dr. Jonas sie einfach nur, machte sich nur oberflächliche Notizen und schickte das Mädchen seiner Wege, ohne je die Polizei oder einen Berater für Missbrauchsopfer zu informieren. Eine schier unentschuldbare Verletzung seiner ärztlichen Aufsichtspflicht.
Suzanne blätterte eine weitere Seite um. Ihre Hände zitterten, als sie las, was dort stand. Leise flüsternd schüttelte sie den Kopf. „Nora Sutherlin … du schlechte Katholikin …“
Mit siebenundzwanzig war Eleanor Schreiber schwanger geworden. Und katholisch oder nicht, die Schwangerschaft war schnell beendet worden. Danach endete die Akte. Keine weiteren Verletzungen, keine Besuche bei Dr. Jonas. Nichts.
Nichts … was genau das war, was Suzanne gegen Father Stearns in den Händen hielt.
Kingsley Edge hatte gesagt, sie solle seine Schwester besuchen. Die Schwester, die sie nicht sehen wollte. Sie wusste, dass Father Stearns eine Schwester in Dänemark hatte. Das hatte er ihr an jenem Abend im Pfarrhaus erzählt. Sicher meinte Kingsley nicht sie – das wäre etwas weit für einen Recherchetrip. Also blieben nur Claire oder Elizabeth.
Über Claire hatte sie letzte Nacht recherchiert. Eine zauberhafte Frau in Nora Sutherlins Alter – reiches Mitglied der feinen Gesellschaft, kein Ehemann, keine Kinder, keine Skandale. Als Kriegskorrespondentin hasste Suzanne es, mit solchen Leuten zu sprechen. Vielleicht hatte Kingsley das gemeint. Aber dann hatte sie Elizabeth gegoogelt. Gleich der erste Treffer enthüllte eine wichtige und erschreckende Information über Elizabeth Stearns. Obwohl sie auch sehr wohlhabend war, hatte Elizabeth Stearns einen richtigen Job. Sie arbeitete als „Therapeutin für Opfer von sexuellem Missbrauch in der Kindheit“.
Allein diese Bezeichnung sorgte
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