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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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von ihr beherrschte Kunst der Lüge in zwei Worte zu fassen. Erstens log sie selten, aber so geschickt – gewissermaßen zu geschickt –, dass ihre übertriebene Natürlichkeit sich von ihrer üblichen Sprechweise auffällig unterschied und man daraus schließen konnte, dass sie log. (Es stimmte zwar, dass sie sich in Clichy und dann für ein paar Wochen in Colombes und Puteaux um Grundschulkinder gekümmert hatte, aber es stimmte schon weniger, dass sie – wie ich mir von vornherein gedacht hatte und später bestätigt bekam – von sich aus gekündigt hatte: Nach einer üblen Angelegenheit hatte man sie mit einem Handschlag verabschiedet – eine Angelegenheit, in der sie sich jedoch weniger hatte zuschulden kommen lassen, als die Behörden es angenommen hatten, wenn ich meiner Einschätzung ihrer Lügengeschichten trauen kann.) Zweitens, auch wenn sie nicht log, steckte in Irène eine so grundsätzliche Durchtriebenheit, eine angeborene Falschheit ihres innersten Wesens, dass jedes von ihr gesprochene Wort einen Hintergedanken barg, etwas anderes sagte, als es sagte.
    Ohne gleich von Lüge sprechen zu wollen, möchte ich doch einen Augenblick beim Wesen dieses Hintergedankens verweilen, insofern er stets vorhanden war, im Zentrum unserer sechs Tage währenden Beziehung stand, und ich ihn als bedrohlich, gefährlich, ja mörderisch empfand, ganz gleich ob Irène so einfache Aussagen traf wie »Mir ist zu warm«, »Es ist schon zwanzig Uhr« oder »Ihre Tasse Kaffee ist voller als meine es war, als der Kellner sie mir gebracht hat«. Der Grund war: Was einem anderen gehörte, angefangen beim Leben selbst, von dem glaubte Irène steif und fest, dass jemand es ihr gestohlen hatte (»Man hat Ihnen mehr Kaffee eingegossen als mir!«), sie war auf alles neidisch und nahm einem alles übel, zum Beispiel die Hitze, unter der man weniger litt als sie selbst (sodass man sich für die mangelnde frische Brise verantwortlich fühlte) oder die weiter vorangeschrittene Zeit, als sie geglaubt hätte (war ich denn schuld,wenn es schon zwanzig Uhr war und nicht erst neunzehn Uhr dreißig?) – sogar die Tatsache, ich wiederhole es, dass man lebte, für sich selbst atmete und nicht etwa nur, um ihr Leben einzuhauchen.
    Wenn sie sprach, so schien es, dann nur, um den anderen besser packen, ihn umgarnen, in ihren Bann ziehen, aus der Distanz ersticken zu können, sie fuchtelte viel mit den Händen herum, beschrieb mit ihnen kleine Wege durch den Raum, kleine Kreise, öffnete und schloss sie einfach – oder rieb sich mit der Hand nervös die Nasenspitze, wie Kinder es tun.
    Die Hinterlistige hatte den Namen Armand wie einen Angelhaken ausgeworfen.
    »Sie müssen mich mit diesem Armand in Kontakt bringen«, sagte ich. »Ich muss mehr über Claras Schicksal erfahren.« (Ich zögerte – nein ich zögerte nicht:) »Ich bin bereit, noch einmal zu zahlen. Ihn und Sie zu bezahlen.«
    Ich glaube, dass sie nicht mit einer Belohnung gerechnet hatte, wie ich schon sagte, bestand ihre Hauptabsicht darin, mich in Beschlag zu nehmen. Aber mein Geldangebot ließ sie nicht gleichgültig. Sie genoss ihre Macht über mich, sie hatte mich in der Hand (eine lange elegante Hand, ganz im Einklang mit der Anmut ihrer schlanken Unterarme), ihre Augen leuchteten vor Vergnügen über diese Macht, ein tierisches Vergnügen am Spiel, das Vergnügen eines Tigerbabys, das sich nicht darum schert, was es beim Spielen in Fetzen reißt.
    Dennoch sagte sie:
    »Es ist heikel, aber ich werde es versuchen … und Sie, wer sind Sie? in welcher Beziehung stehen Sie zu Clara? Wie alt ist sie? Sind Sie ihr Liebhaber?«
    Ja, eine eigenwillige Person, diese Irène Maggie Perking, ein echtes Original, jemand, der nicht wie die anderen war, ein außergewöhnlicher Fall, der einen zur Beobachtung animierte. Ich war von ihrer Diktion fasziniert, von ihrer langsamen, achtsamen Sprechweise – genau wie eine Schülerin, die sich bemüht,jede einzelne Silbe überdeutlich auszusprechen –, was eine beruhigende, beschwichtigende Wirkung hätte haben können, im Fall von Irène jedoch schien diese heuchlerische Ruhe, aufgrund der bösen Kraft, die ihr innewohnte und alles verfälschte, einen geradewegs zur Opferbank zu führen.
    »Sie ist so alt wie Sie.«
    Irène, erstaunt:
    »Aber Sie wissen doch nicht, wie alt ich bin!«
    Ich hatte Glück:
    »Doch, zweiundzwanzig Jahre.«
    Irène, noch erstaunter:
    »Aber woher wissen Sie das?«
    »Das will ich Ihnen sagen, Clara ist so alt wie

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