Gesetzlos - Roman
Sie.« (Sie stieß ein kurzes Lachen aus, das gleich wieder verebbte. Ich fuhr fort:) »Nein, nicht ihr Liebhaber. Ein enger Freund. Ich befand mich gerade in ihrem weitläufigen Haus in Saint-Maur, als heute Nachmittag das Telefon klingelte. Und um Ihnen auch etwas zu gestehen: Der Anruf und die Lösegelderpressung galten nicht mir.«
Irène, höchst erstaunt:
»Nicht Ihnen?«
»Nein. Man hat mich auch für jemand anders gehalten. Für Michel Nomen, Claras Onkel, der sich leider gerade umgebracht hatte.«
»Unglaublich!«
»Die wollten einen Verwandten, der bereit wäre zu zahlen, ich war da …«
»Also, das ist ja …«
Ich ließ ihr etwas Zeit, sich von ihren verschiedenen Verblüffungsgraden zu erholen und sagte dann:
»Denken Sie, es wäre möglich, Armand zu treffen? Ich bitte Sie, Sie sind meine einzige Chance. Sonst kehre ich nach Hause zurück und sterbe vor Sorge.«
»Aber vielleicht ist sie gar nicht wirklich verschwunden? Vielleicht schwebt sie überhaupt nicht in Gefahr?«
»Ja. Bei der Aufzählung Ihrer Vermutungen haben Sie bereits die Möglichkeit erwähnt, dass sie gar nicht entführt wurde. Nun, ich würde gern ganz sichergehen, indem ich den genauen Ablauf der Dinge so weit wie möglich rekonstruiere. Und das Schlimmste abwenden, falls sich herausstellen sollte, dass das Schlimmste noch droht, und solange es nicht zu spät ist. Ich bitte Sie, ich flehe Sie an. Sie haben nichts zu befürchten. Ich bin nicht in der Position, jemandem schaden zu können. Ich werde mich an die geforderten Bedingungen halten und bezahlen. Mich erfüllt nur ein einziger Wunsch: Clara gesund und munter wiederzufinden. Wenn ich es richtig verstanden habe, und wenn ich Ihnen glauben darf, versorgt Ihr Freund Armand Sie regelmäßig mit kleinen Jobs, von denen einige illegal sind – und das bereitet Ihnen weiter keine Sorgen?«
»Genau.«
»Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass Sie womöglich ohne Ihr Wissen etwas Böses tun?«
Aber vielleicht, sagte ich mir in dem Moment, in dem ich ihr die Frage stellte, kam es ihrem Naturell letztlich entgegen, nicht nur wissentlich, sondern auch unwissentlich Böses zu tun.
»Ja. Nein, darüber denke ich nicht nach.«
»Oder dass Sie sich selbst in Gefahr bringen könnten?«
»Nein. Darüber denke ich nicht nach. Zum Leben brauche ich Geld. Und dank Armand verdiene ich welches.«
»Was ist er für Sie?«
»Jedenfalls nicht mein Liebhaber.«
Eine Information, die von einem kleinen hämischen Lächeln begleitet wurde, mehr lächelte sie nie, als würde sie es sich verbieten – und wenn sie lachte, gab sie nur eine oder zwei kurze Lachsalven ab, wie die Schreie eines unheilvollen Raubvogels, die jedoch gleich wieder abbrachen.
Armand Nathal (ich konnte seinen Namen am späteren Abend an der Wohnungstür lesen) war ein etwa fünfzigjähriger Rechtsanwalt, den man vor sechs Jahren aus der Staatsanwaltschaftgeworfen hatte (wie Irène mir umstandslos erzählte). Seit der Jugend starke Neigung zur Illegalität, schlechter Umgang, mittelmäßige Beratung, die, nebenbei erwähnt, selten in Anspruch genommen wurde, Doppelleben, diverse Betrügereien, wobei die letzte und schwerste zu seinem Rauswurf geführt hatte. Begegnung mit Irène bei einer Opernaufführung, zwischen den Akten. Er baut sie halbwegs wieder auf (sie steckt in einer Krise) und lässt sie bei sich wohnen, in einer Wohnung am Boulevard Voltaire Nummer 93a, sechste Etage, die er zu einem unseriösen Preis erworben hat. Sie arbeitet für ihn als Sekretärin, macht Botendienste oder reist mit Dokumenten umher (durch das ganze Land, manchmal auch ins Ausland). Sie schlafen nicht miteinander, haben nie miteinander geschlafen. Er hat sie gewissermaßen adoptiert. Er kümmert sich um sie, sie kann sich auf ihn verlassen. Irène lebt seit anderthalb Jahren nicht mehr bei ihm. Sie wohnt jetzt in einer Dreizimmerwohnung im fünften Arrondissement in der Rue Saint-Augre zwischen dem Boulevard de l’Hôpital und dem Jardin des Plantes. Sie holte ein ultraflaches ultra-schwarzes Telefon aus ihrem Leinenbeutel.
»Wundern Sie sich nicht über das, was ich Armand gleich erzähle, um ihn zu einem Treffen mit Ihnen zu überreden«, sagte sie.
Hatten mein Unglück, mein verzweifelter und hartnäckiger Wunsch, Clara »wiederzusehen«, meine Aufrichtigkeit, mein Vertrauen sie berührt? Nein, obwohl es den Anschein hatte. Doch war sie einzig von dem Verlangen getrieben, das sie von der ersten Sekunde an – und
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