Gesetzlos - Roman
blieb noch eine ganze Weile mit klopfendem Herzen auf der Schwelle stehen.
K APITEL 21
RUE DU DRAGON
Deshalb muss man auch trachten,
von hier dorthin zu entfliehen aufs Schleunigste
.
Platon,
Theaitetos
…
die Wörter wurden schließlich erfunden, um die Wahrheit einzusperren und sie zu verhehlen, nicht um sie zu verbreiten
.
Mezz Mezzrow,
Really the blues
Schließlich trat sie ins Haus.
Erst einmal empfand sie das Bedürfnis, sich den Ort wieder anzueignen. Sie machte einen Rundgang durch alle Räume, durch Michel Nomens Schlafzimmer und Atelier zuletzt.
Nachdem sie ins Wohnzimmer im Erdgeschoss zurückgekehrt war, überkam sie eine tiefe Verzweiflung über den Tod ihres Onkels, den sie nun auf eine andere Weise betrauerte, als sie es noch in Opera getan hatte. Auf einmal war es viel schmerzhafter.
Dann dachte sie über ihr Abenteuer im All nach. Wie hätte sie das, was sie tatsächlich erlebt hatte, in Zweifel ziehen können? Und was sollte sie in den kommenden Stunden und Tagen tun?
Sie wollte allein sein.
Im Nachhinein machte sie sich Vorwürfe, nicht gleich bei der Rückkehr ein paar Verwandte angerufen zu haben, um sie von ihrer Angst zu erlösen, wenigstens Alma, ihre geliebte Alma. Vor allem verstand sie nicht, wie diese abartige Gemütsverfassung, die sie dazu trieb, sich zu Hause einzuschließen und weiter von der Welt abgeschnitten zu bleiben, wie sie es in der Raumkapsel Opera gewesen war, vom Freitagabend, den 30. Mai, bis zum darauffolgenden Montag, den 2. Juni hatte andauern können.
Sie ging nicht nach draußen. Sie ernährte sich von tiefgekühlten Lebensmitteln, mit denen ihr Kühlfach reichlich bestückt war.
Sie schlief viel, wähnte sich manchmal in der Raumkapsel Opera, die mal nah und mal weit fort war, wie eine Wolke im Himmel oder eine Wolke hinter dieser Wolke.
Als sich der Tag neigte, sah sie fern, diese Verbindung mit ihrer Heimaterde genügte ihr.
Am Sonntagabend um neunzehn Uhr sah sie in den Lokalnachrichten von Ile-de-France eine Kurzreportage über die Eröffnung einer neuen Buchhandlung, der Buchhandlung du Dragon in der Rue du Dragon, die auf schwer auffindbare Bücher spezialisiert war. Der Buchhändler, Petrus Lebaz, ein Peruaner, der den Namen seiner französischen Mutter übernommen hatte, war ein kleiner, fetter, kahlköpfiger Mann, der sich die Haut von Gesicht und Händen, wenn nicht gar den ganzen Körper, eingeölt zu haben schien.
Selbstgefällig pries er sein lückenloses Wissen auf dem Gebiet seltener Bücher. (Er hatte eine widerwärtige Stimme, die bei jedem Wort die Tonhöhe veränderte.) Clara sagte sich, dass sie nicht übel Lust hätte, bei der Buchhandlung vorbeizuschauen, sobald sie wieder ausginge: Vielleicht würde dieser alberne und unausstehliche Aufschneider etwas über die Herkunft der vier Verse wissen?
Erst am Morgen des 2. Juni rührte sie wieder ihr Klavier an (ein Madrigal von Carlo Gesualdo, das von Luis Archer fürs Klavier bearbeitet worden war) und sie hatte tatsächlich erst am frühen Montagnachmittag des 2. Juni den Eindruck, gänzlich aus ihrem unvorstellbaren Abenteuer zu erwachen.
Um fünfzehn Uhr beschloss sie, Alma Perez anzurufen, um ihr zu sagen … aber was sollte sie sagen?
Sie dachte nach. Dann fiel ihr ein, was sie sagen würde.
Almas Erleichterung wühlte sie zutiefst auf. (Warum, warum nur hatte sie sie nicht früher angerufen!)
»Geht es dir gut, mein Schatz?«, rief Alma. »Erzähl mir, was los war!«
»Es geht mir gut, Alma, alles ist gut!«
»Was war los? Und Michel? Mein Gott, ich war verrückt vor Angst, verrückt vor Kummer!«
Nachdem es ihr nicht gelungen war, die Nomens zu erreichen, und sie auch keine Antwort auf ihre beunruhigten Nachrichten auf dem Anrufbeantworter erhielt, hatte sie vor vier Tagen in der Kunstschule von Garches angerufen, und dort hatte man ihr alles erzählt …
Was ihr »Verschwinden« anging, sagte Clara ihr nicht die Wahrheit.
Sie wusste, dass ihr niemand die Wahrheit glauben würde. (Und hatte sie überhaupt Lust, irgendjemandem von Axel zu erzählen? Sie hätte den Eindruck gehabt, unrecht zu handeln, ein kostbares Geheimnis zu verraten.)
Also griff sie zu einer Lüge – wenn auch bedauernd, aber sie sah keine andere Lösung – und erzählte eine Geschichte, die im Laufe ihres Berichts immer vollständiger, reicher und komplizierter wurde, ja von Satz zu Satz glaubhafter, so überzeugend klangen die Einzelheiten der Aussage.
(Clara war selbst erschrocken über die
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