Gesetzlos - Roman
ich?
Nein, wie die weitere Entwicklung zeigte, war dem nicht so. Die Bosheit dieser Person war nicht eingebildet.
So fuhr ich Cathy also zu sich nach Versailles in die Avenue Général-Pershing.
Mehrmals sah ich sie den Finger an den Mund heben, wobei sie das Gesicht ein wenig verzerrte, als hätte sie Schmerzen.
»Ja, am Zahnfleisch. Ich weiß nicht, was es ist.«
»Sicher nichts Schlimmes. Seit wann hast du denn die Schmerzen?«
»Seit heut Mittag. Aber jetzt tut es noch mehr weh.«
Wir kamen an eine rote Ampel.
»Willst du mir die Stelle zeigen?«
»Ja«, sagte sie.
Mit einem Finger schob sie die Oberlippe leicht hoch. Ich kam näher heran. Es war tatsächlich eine Rötung zu sehen, ein Kratzer, genau über dem Schneidezahn.
»Wie ich es mir gedacht habe«, sagte ich, »nichts Schlimmes. Das passiert beim Essen. Man holt sich einen Kratzer von einem Stück Brot. Im ersten Moment achtet man nicht darauf, vergisst es. Und später beginnen die Schmerzen, und man fragt sich warum. Man kann sogar eine Beule am Kopf kriegen und vergessen, dass man sich an einem Schrank gestoßen hat.«
Sie lachte.
»Ich versichere es dir!«
»Es war beim Essen, Sie haben recht. Mit einem Stückchen Hühnerknochen. Jetzt erinnere ich mich, ich bin mir sicher, dass es das war!«
»Siehst du … das geht vorüber. Im Mund verheilt alles ganz schnell. Und weißt du warum?«
Ich erklärte ihr in etwa, was ich von meinem Zahnarzt gehört hatte, was ich über die raschen Heilungsprozesse der Mundschleimhäute wusste.
Ich sprach mit Cathy wie mit einer Erwachsenen, auf gleicher Augenhöhe, was ich im Übrigen mit all meinen Schülerinnen und mit Kindern im Allgemeinen machte – dabei war ich stets über ihre Fähigkeit erstaunt, alles zu begreifen, egal in welchem Bereich. Es war das erste Mal, dass ich mich so lange außerhalb des Schulgeländes mit ihr unterhielt, und ihre mir bereits bekanntenEigenschaften wie Klugheit und geistige Lebhaftigkeit kamen vollends zur Geltung. Ich wusste nichts über ihr Leben zu Haus, über ihren Alltag, der sich möglicherweise völlig von dem unterschied, was ich mir so vorstellte, und ich fragte mich, wie dieses Kind ohne Mutter, dieses Einzelkind, das in Gesellschaft einiger Hausbediensteter und eines alten behinderten Vaters lebte, soviel Frische und Fröhlichkeit ausstrahlen konnte. Ich bekam die Antwort, als wir durch die Avenue Foch kamen und in die Avenue Suresnes bogen, anders gesagt, kurz bevor wir Paris verließen: Je weiter wir uns Versailles näherten, desto merklicher veränderte sich ihre Haltung, sie war nicht mehr dieselbe. Dieses wundervolle, begabte Kind ließ, sobald es das Schulgebäude betrat, im Unterricht saß und mit seinen Klassenkameradinnen und Lehrern zusammen war, dem Lebensstrom, der es erfüllte, freien Lauf, während es ihn auf seinem Familienschloss eindämmen musste – es handelte sich, wie Cathy mir bestätigte, bei dem Gebäude mit den zwei Türmen, die höher als die höchsten Bäume in den Himmel ragten, tatsächlich um eine Art Schloss, das wir durch ein kleines Gehölz schimmern sahen, nachdem ich über die Avenue du Général-Pershing nach Versailles gefahren war, in einer ruhigen Parallel-Straße geparkt hatte und schließlich mit ihr auf die Nummer 5 zugesteuert war.
Wie angekündigt (und das hatte mich überrascht), erwartete uns Anton hinterm Tor. Auf einen Stock gestützt erhob er sich mühsam aus seinem Rattansessel. Ohne seine Livree und vor allem ohne seine Mütze auf dem schütteren weißen Haar, in dem die Brise spielte, erschien er mir plötzlich viel älter, ich sah einen anderen Anton als den, der in seiner Uniform aufrecht vor dem Tor des Instituts Benjamin gestanden hatte.
Dieser gutherzige Mann sorgte sich weniger um seinen Gesundheitszustand als um seine Pflichten als Hausangestellter. Er konnte zwar gehen, wenn auch mehr schlecht als recht, aber ganz gewiss nicht fahren und auf die Pedale drücken, ausgeschlossen. Er war sehr beunruhigt (umso mehr, als die Rolle des Chauffeursin Cathys Dienst zu seiner Lebensaufgabe geworden war). Dann sagte er, Monsieur Maynial würde mich gern begrüßen – doch mir schien, als wäre das ein rein förmliches Angebot und als wollte Cathys Vater mich eigentlich gar nicht treffen. (Das war sicher auch der Grund, warum Anton mir bei seinem Anruf im Institut nicht vorgeschlagen hatte, mit dem Auto direkt vors Haus zu fahren. Jedenfalls nahm ich das stark an.) Und mir schien, als legte auch Cathy
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