Gesetzlos - Roman
prächtigen jungen Frau – deren hellgrüne Augen manchmal von tiefer Traurigkeit verdunkelt wurden. Sie fürchtete sich vor der Einsamkeit. Sie hatte jede Menge Liebhaber, bloße Flirts, doch Sylvie nahm daran keinen Anstoß. Sie vergötterte Lucie als junge Frau noch mehr, als sie sie schon als Kind vergöttert hatte.
Im Laufe der Jahre führte Sylvie ein immer eigenständigeres Dasein. Sie versuchte auf ihre Weise, mit dem Verlust ihrer Tochter fertigzuwerden. Sie begann wieder viel auszugehen, verbrachte die Wochenenden bei Freunden, im Winter fuhr sie für einen Monat weg und im Sommer für zwei. Ab dem Jahr 1975 gewöhnte sie die Kinder an den Gedanken, dass sie eines Tages die Avenue Foch verlassen würde. In Wahrheit aber trug sich die noch immer quirlige Sylvie mit dem Gedanken, wieder zu heiraten. Sie verkündete dies anlässlich von Lucies siebzehntem Geburtstag (zu dem sie niemanden eingeladen hatten). Sylvie erzählte ihren Enkeln von einem Mann, mit dem sie sich bereits seit einem Jahr regelmäßig traf, Maurice Duplat, einem Schriftsteller, der sowohl sehr bekannt als auch unbekannt war (er publizierte nämlich unterverschiedenen Pseudonymen, nie unter seinem echten Namen). An diesem Tag erzählte sie wenig mehr als das (und die Kinder drangen nicht in sie), und zwar aus mehreren Gründen: zum einen vielleicht aus Angst, Michel könne ein Werk ihres Liebhabers lesen und darüber entsetzt sein (das sollte wenige Monate später tatsächlich der Fall sein). Die Neuigkeit erstaunte Michel und Lucie nicht übermäßig. Sie kannten Sylvie, ihr gutes Herz, die Dramen ihres Lebens, und der Gedanke an eine Neuheirat war weder überraschend noch in irgendeiner Weise schockierend. Dieser Geburtstagsabend war ein Moment großer Verschworenheit und Ergriffenheit zwischen ihnen. Auf einmal lastete die Vergangenheit wieder schwer auf ihnen. Sie konnten ihre Tränen nicht unterdrücken, aber es waren nicht die schmerzvollsten, die sie vergossen hatten. Sylvie stellte (einmal mehr) fest, dass Michel trotz seiner scheinbaren Gleichgültigkeit hochsensibel und verletzlich war und dass die Flucht in die Malerei für ihn zu einem unverzichtbaren Bedürfnis geworden sein musste.
Sie sahen sich weiterhin häufig. Sylvie war unbesorgt: Michel und Lucie mangelte es nicht an Geld, und da sie ihre Enkelin in den Händen eines so liebevollen und so reifen Bruders wie Michel wusste, hatte sie nicht den Eindruck, sie im Stich zu lassen.
An einem Sonntagnachmittag gegen Ende des Jahres 1976, Sylvie war mit Michel allein im Haus, hatte er sie überredet, die Regeln des Schachspiels zu erlernen (Sylvie hatte eine Abneigung gegen sämtliche Spiele), zumindest wie man die Steine auf den Brett bewegte. Und an diesem Tag wagte Sylvie einen erneuten Vorstoß, mit etwas mehr Nachdruck als sonst aber mit derselben Feinfühligkeit, auf eine Weise, die Michel stets die Wahl ließ, sich zu dem Thema zu äußern oder auch nicht, ganz wie er wollte. Michel wollte. Er vertraute Sylvie, er vertraute ihrer Wohlgesinntheit und ihrer Lebenserfahrung, er begriff, dass sie sich sorgte und sich allerlei Fragen stellte. Und er war erleichtert, mit ihr zu sprechen. Er erklärte ihr, dass er nicht homosexuell war, dass er sich von Frauen angezogen fühlte, ihn jedoch etwasdavon abhielt, den Liebesakt zu vollziehen – etwas, das nicht etwa Ekel war, auch nicht Angst, ihn aber am Ende doch lähmte. Die einfachen oder komplexen Erklärungen, seine eigenen und die der Therapeuten, waren allesamt unbefriedigend. Von allen Rätseln, vor denen er je gestanden hatte, erzählte er Sylvie, war dieses das undurchdringlichste. Das einzige, was er mit Sicherheit wusste, war, dass er mit fünfundzwanzig Jahren noch immer auf die Frau seines Lebens wartete, auf jene Person, die für ihn bestimmt war und von der er sich sagen würde, dass sie es war und keine andere, der er sich endlich hingeben würde, wenn sie denn wollte, und die er heiraten würde, wenn sie denn wollte, sprich – fügte er mit seinem garstigen Lächeln hinzu – wenn sie nicht abgestoßen war von einem Mann, der nicht über das klassische Aussehen des jungen Liebhabers verfügte.
Er entschuldigte sich fast bei Sylvie für diese fotoromanhaften Erwartungen und Pläne, deren Albernheit er sich selbst bewusst war. Aber so war es nun einmal. Er hatte den Eindruck, einem vorgezeichneten Pfad zu folgen, und empfand dabei eine gewisse Befriedigung. Sylvie, die von diesen Geständnissen und vor allem
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