Gesetzlos - Roman
beipflichteten und einander dankten, indem sie sich gegenseitig auf die Schulter klopften.
Ich kann mich an diese Männer und die drei jungen Frauen deshalb noch so gut erinnern, weil ich später aufgefordert wurde, mich auf den genauen zeitlichen Ablauf dieses Abends zu konzentrieren.
Schließlich ging ich nach Hause. Ich parkte in der Rue de la Tour-de-Cordoue und ging die Rue des Martyrs zu Fuß hinauf. Es war nach drei Uhr morgens. Erstaunlicherweise brannte bei meinen Nachbarn auf meinem Stockwerk, dem fünften, Licht. Um diese Zeit? Herr Maliport stand wartend auf dem Balkon und schien die Rue des Martyrs mit den Blicken abzusuchen. Sein Blick fiel auf mich, er erkannte mich, winkte mir zu und setztesein Warten gleich wieder fort. Vielleicht war seine Frau krank, und er hatte den Arzt gerufen? Das war mein erster Gedanke, und er stellte sich als richtig heraus, wie ich tags darauf erfuhr.
Ich fand eine lustige und liebevolle Nachricht von Maxime auf dem Band. Er hatte Tunis zugesagt, er würde mich über alles Weitere auf dem Laufenden halten.
Dusche, Nägel bürsten, mit der neuen sanften und harten Nagelbürste, dann ging ich zu Bett, nun aber todmüde.
Meine Sammlung stieß bei den beiden neunten Klassen, die ich am nächsten Morgen, Donnerstag, von zehn bis zwölf Uhr unterrichtete, auf größte Zufriedenheit. Ich muss allerdings sagen, dass sich meine unkomplizierten Schülerinnen ebenso dankbar gezeigt hätten, wenn ich ihnen Messen aus dem Mittelalter ausgeteilt hätte. Es ist Zufall, dass ich das sage, aber es traf sich, dass ich ihnen etwas über Alte Musik und über die Anfänge der Polyphonie erzählen musste und sie dazu aufforderte, sich unter Berücksichtigung all der im Laufe des nun endenden Schuljahres gesagten und gelesen Dinge folgende Frage zu stellen: War die Polyphonie wirklich eine Erfindung des Westens oder entsprach sie, wie die Musikethnologie nahelegt, einem natürlichen Phänomen in der musikalischen Praxis, einem in der primitiven Musik quasi spontan eintretenden Phänomen – mit anderen Worten, ging die Polyphonie aus der Musik, sprich aus der Menschheit selbst hervor?
Ich für meinen Teil wollte das gern glauben.
Ende der Stunde. Die nächste begann erst um fünfzehn Uhr. Der Gedanke an einen kleinen Mittagsschlaf nach einer so kurzen Nacht gefiel mir.
Von Weitem sah ich, wie Hubert Mornais die Tür zu seinem Büro aufstieß und dort stehen blieb, als würde er auf mich warten. Das war ziemlich unwahrscheinlich. Von beruflichen Zwängen abgesehen mied er es, mich zu sehen. Doch diesmal wartete er ganz offensichtlich auf mich. Ich war noch mehrere Schrittevon ihm entfernt, als er mir bereits bedeutete, in sein Büro einzutreten. Darin saß Eric Quiret, der Vize-Direktor – mager, glatzköpfig und missgelaunt vom Scheitel bis zur Sohle. Dann sah ich zwei Männer mittleren Alters, bei denen ich sofort vermutete, dass sie von der Polizei waren. Ohne zu wissen warum, bekam ich Angst um Cathy.
Was sich in der vergangenen Nacht ereignet hatte, war allerdings unvorstellbar grausam und überstieg meine schlimmsten Befürchtungen.
Mornais stellte mir die beiden Männer vor, Lieutenant Antoine Subert und seinen Vorgesetzten Capitaine Antoine Gusta von der Versailler Kriminalpolizei, Referat Verbrechensbekämpfung. Und hier nun, worüber sie mich in Kenntnis setzten: Am Abend zuvor waren Cathy Maynial und Anton Koenig, nachdem ich sie im Park der Avenue Pershing Nummer fünf zurückgelassen hatte, von einem Mann oder mehreren Männern überfallen worden – nach Ansicht von Antoine Gusta aber eher von einem Einzeltäter. Anton war mit einer Eisenstange erschlagen worden (man hatte die Stange zwei Meter von ihm entfernt gefunden) und noch vor Eintreffen der Rettungskräfte gestorben. Cathy war verschwunden. Man hatte Treibjagden veranstaltet, obwohl diese ganz unnötig waren, falls der Angreifer mit ihr im Auto geflüchtet war. Doch davon ging die Polizei ganz zu Recht nicht aus, vielmehr hatte sie im Viertel die Nachbarhäuser, Gärten und Parks abgesucht – und Cathy mitten in der Nacht in der Garage einer nur wenige hundert Meter von ihrem Schloss entfernten Villa gefunden. Die Besitzer, ältere Leute, waren bei ihren Kindern zu Besuch in La-Colle-sur-Loup und hatten vergessen, die Garage abzuschließen. Cathy war, unter Decken versteckt, hinter einer breiten Kommode und Metallfässern gefunden worden. Sie lag im Koma. Sie hatte einen Schlag auf den Kopf bekommen und war
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