Gesetzlos - Roman
um denselben Gierow. Man hatte nicht versucht, sein Aussehen zu verändern, die Farbe war noch die Originalfarbe und das Auto nur wenig gefahren (ein paar hundert Kilometer mehr auf dem Zähler). Nur die Nummernschilder waren ausgetauscht worden. Der Fahrer war nicht einer der Angreifer von Éva und Albin. Er hatte das Auto in einem Vorort von Barcelona in einer Werkstatt gekauft, der Werkstattbesitzer hatte es wiederum auf einem Schrottplatz gefunden, von dem er sich Fahrzeuge holte, um sie zu reparieren und weiterzuverkaufen, dort endete die Spur. Was in all den Jahren mit dem Gierow geschehen war, das ließ sich nicht herausfinden.
Das Geheimnis um den 6. Juni ’66 blieb ungelüftet.
Zu Beginn des Sommers ’78 (Lucie hatte gerade ihr Abitur bestanden) starb Kater Kolia. Was man für Symptome eines Schnupfens gehalten hatte, stellte sich nach einigen Untersuchungen als bösartiger Tumor heraus, der in den Nasennebenhöhlen saß und schließlich das Hirn des armen Kolia erreichte. Die Entwicklung war sprungartig gewesen, bis zu einem gewissen Zeitpunkt ging es ihm noch recht gut, sodass Lucie an ein Wunder glauben wollte – doch dann starb er plötzlich, er verstarb noch in dem Auto, mit dem Michel und Lucie ihn wegen eines heftigen epileptischen Anfalls zur Tierklinik von Garches fahren wollten.
Für Lucie war es ein furchtbarer Schlag. Mit Kolias Tod begann jenes große Schlamassel, das ihr ganzes weiteres Leben bestimmen sollte und dessen auffälligstes Symptom die schlagartige Veränderung ihrer Beziehung zu Männern war. Sie blieb unstet wie zuvor, aber begnügte sich allmählich nicht mehr mit Koketterie und Flirts, sondern gab dringenderen Gesuchen ihrer zahlreichenVerehrer statt, die von der jungen prächtigen Frau mit dem hellen traurigen Blick ganz verzaubert waren. Im Laufe der Monate und Jahre wurde aus Lucie, um die Dinge beim Namen zu nennen, ein leichtes Mädchen. Michel und Sylvie waren fassungslos und konsterniert, doch konnten sie nichts daran ändern. Ohne zu streiten erklärte Lucie ihnen ein ums andere Mal, dass ihr diese Lebensweise Halt gab und sie weniger unglücklich war.
Trotz allem gab sie ihr Studium nicht auf. Nach zwei Jahren an der Universität erlangte sie 1980 einen Abschluss in Spanisch und reichte im darauffolgenden Jahr eine Magisterarbeit ein. Michel fühlte sich wegen der Herkunft seiner Mutter von der spanischen Kultur angezogen. Er erinnerte sich an ihr wildes Gelächter beim Lesen des
Abenteuerlichen Buscón
von Quevedo und schlug seiner Schwester vor, über die Figur der Übertreibung in der spanischen Literatur bis Cervantes zu forschen. Dann könne sie, wenn sie Lust habe, eine seiner Ansicht nach sehr wünschenswerte Neuübersetzung des Buscón in Angriff nehmen. Lucie stellte ihre Arbeit innerhalb von zwei Jahren fertig, dann machte sie sich ohne sonderliche Begeisterung an die Übersetzung des Buchs, die sich immer weiter in die Länge zog und nie fertig werden sollte.
Von allen materiellen Sorgen befreit, widmete sich Michel mit unveränderter Leidenschaft der Malerei. Zwischen 1980 und 1983 nahm er ein paar Ausstellungsangebote an. Sich diesen mondänen Veranstaltungen zu stellen, kosteten ihn viel Mühe und Überwindung. Er war nicht eigentlich schüchtern, und es widerstrebte ihm auch nicht, seine Arbeiten zu zeigen, aber er mochte die Menge, die Massen um sich herum nicht. In solchen Situationen blieb er distanziert, in sich gekehrt und kam nur aus sich heraus, wenn er mit Lucie zusammen war oder mit dem treuen, immer noch mageren Bertrand (mittlerweile wissenschaftlicher Berater für industrielle Unternehmen). Trotzdem empfanden die Leute Michel weder als scheu noch als unangenehm, im Gegenteil, seine Direktheit und Wohlgesinntheit hatten ihren Charme, und so suchte man durchaus seine Gesellschaft.
Er stellte also seine menschenleeren Landschaften, die tot schienen oder vielleicht nur auf das Leben warteten, in einigen Galerien der nahen Vororte aus und dann in Paris, in der berühmten Galerie Jacoudot in der Rue du Dragon. Die Ausstellungen hatten zufriedenstellenden Erfolg, sie missfielen weder dem Publikum noch der Kritik. Aber die Kargheit seines Werks (und nach Michels Erachten seine mangelnde Genialität) hinderte ihn daran, zu wahrem Ruhm zu gelangen und erst recht ein modischer Maler zu werden – was ihm im Grunde egal war. Die einzige Person, der er bedingungslos gefallen wollte, war er selbst, und er war nicht mit sich zufrieden, ja, weniger
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