Gesetzlos - Roman
zufrieden, schien ihm, als in seinen Anfängen mit zwanzig, fünfundzwanzig Jahren.
Hochzufrieden war er hingegen mit den etwa hundert Seiten, die er im Laufe des Winters 1982 über Velázquez, seinen Lieblingsmaler schrieb. Dazu verwendete er die zahlreichen Notizen, die er bei seiner Aufnahmeprüfung für die Schule in der Rue Bonaparte angefertigt hatte, und veröffentlichte Anfang 1983 bei Azur in der Reihe »Meister der Vergangenheit« einen Essay über
Las Meninas
, die Träumerei des mit geschlossenen Augen schlummernden Hundes, das unfassbare Schicksal, das über das kleine Kind Marguerite hereinbrechen sollte, die für immer durch den Pinsel des Malers gebannte Zeit. Die Reproduktionen waren hervorragend, der Verleger vertraute Michel und hatte das nötige Geld in das Unternehmen gesteckt. Michel war glücklich mit dem Ergebnis, und das Buch verkaufte sich gut in den interessierten Kreisen. Für ihn, der unter dem starken Gefühl der Nichtexistenz litt, änderte diese Veröffentlichung, dieser neue Kontakt zur Welt, diese andere Verkörperung – nicht mehr alles aus sich heraus, aus der eigenen Leere schöpfen zu müssen, sondern mit einem anderen zu verschmelzen, dessen Existenz auf ewig gesichert war, seine Art und Weise, das Leben zu betrachten, es befreite ihn von gewissen Zwängen und führte ihn zu zwei wichtigen Entscheidungen. Die erste bestand darin, eineStelle als Lehrer an einer Kunstschule anzunehmen, die in Garches eröffnen sollte, die zweite, nicht mehr auszustellen, solange er nicht überzeugt war, der Welt ein außergewöhnliches Werk präsentieren zu können, das von seiner wahren Erweckung zur Malerei zeugen würde.
In diesem Zeitraum relativer Ruhe lernte Michel Marie Dubost kennen, eine entfernte Cousine von Valette, die zweiundzwanzig Jahre alt war. Er begegnete ihr bei einem Abendessen seines ehemaligen Zeichenlehrers, mit dem er in Kontakt geblieben war und der ihn mit der Zeit wie einen Sohn liebte. Aus familiären Gründen hatte Marie Dubost meist in Belgien gelebt. Sie hatte ein ausgezeichnetes Jurastudium abgeschlossen, anschließend aber keine Lust gehabt, Rechtsanwältin zu werden. Nun hatte sie sich in Paris niedergelassen, wo ihre Eltern, wohlhabende Leute, ihr einen Antiquitäten-Laden im Madeleine-Viertel geschenkt hatten, samt angrenzender Wohnung und Garten zum Hof.
Sie hatte kein sonderlich hübsches Gesicht, und doch betrachtete man sie gern. Sie war anziehend, ohne dass man genau hätte sagen können warum, ja ohne dass ihr phantastischer Körper die einzige Erklärung gewesen wäre.
Mit seinen über dreißig Jahren hatte Michel, so das auffälligste Symptom seiner kleinen persönlichen Verrücktheit, nie mit einer Frau geschlafen. Und Marie, der ihre zahlreichen Brüsseler Liebhaber im Grunde nie körperliches Vergnügen bereitet hatten, entdeckte es mit Michel. Michel hielt sie für die Frau seines Lebens, die, von der er so oft geträumt hatte, und Marie hielt Michel für den Mann ihres Lebens. Aber die Wirklichkeit trieb sie in eine andere Richtung als jene, auf die sie zuzusteuern glaubten, vollkommene Liebe, Ehe, Kinder. Was sie tatsächlich von März bis September 1984 verband, war rein sexuelle Leidenschaft. Sie verbrachten ein paar Monate in der Illusion der Liebe und knüpften eine ebenso intensive wie oberflächliche Bindung, die sich genauso schnell auflöste, wie sie entstanden war, beinahe von einem Tag auf den anderen.
Sie hatten im Grunde nicht das Bedürfnis, sich außerhalb jener Momente zu sehen, in denen sich ihre Körper vereinten, was sie bis zur völligen Erschöpfung, mit geradezu selbstmörderischer Besessenheit taten, zumindest war dies Michels Eindruck, der in Maries Umarmung zu sterben glaubte (und damals dachte, nie mehr in die Avenue Foch zurückkehren zu brauchen).
Lucie bekam Marie nur zwei- oder dreimal zu Gesicht.
Sie selbst brachte ihre Partner nie nach Hause, jedenfalls nicht, damit sie dort schliefen, dies war eine unausgesprochene Vereinbarung, über die sie sich nie hinwegsetzte. Erst als Michel in der Phase seiner frenetischen Verliebtheit oft bei seiner Geliebten übernachtete, ging Lucie dazu über, manche ihrer Eroberungen über Nacht dazubehalten. Eines Abends im August des Jahres 1984 begab sich Michel nicht zu Marie Dubost, sondern zu einer Feier anlässlich des Geburtstags von Bertrand. Der Abend zog sich hin (sehr zum Missfallen von Bertrand, der nicht gewusst hatte, was für Nachtschwärmer seine Freunde waren),
Weitere Kostenlose Bücher