Gesetzlos - Roman
und so kehrte Michel erst am Morgen in die Avenue Foch zurück. Im Flur des ersten Stockwerks begegnete er zwei eher älteren Männern, die aus Lucies Schlafzimmer kamen. Er fand, dass sie schmutzig und kränklich aussahen. Der Gedanke, dass zwischen diesen Männern und seiner Schwester etwas stattgefunden hatte, widerte ihn an, und versetzte ihm einen Stich. Dies war der Anlass zu dem einzigen echten Streit, den Michel und Lucie je hatten, und in dessen Verlauf Michel seiner Schwester vorwarf, immer der Liebling der Familie gewesen zu sein und, fügte er hinzu, alles daran gesetzt zu haben, es zu sein. Die unglückliche Lucie war völlig perplex. Sie wurde schlagartig ruhig, dachte nach und sagte schließlich, sie sei sich dessen nie bewusst gewesen, er sei ungerecht, und brach dann in Tränen aus.
Michel nahm sie in die Arme und flehte sie an, ihm zu verzeihen: Ja, er gab zu, ungerecht gewesen zu sein. Rasch versöhnten sie sich wieder, aber die Heftigkeit dieser Szene hinterließ ihre Spuren und trug nicht dazu bei, die kleine Kluft zwischen ihnen,die sich seit dem Tod ihrer Eltern aufgetan hatte und hartnäckig bestehen blieb, zu überwinden.
Anfang September, nachdem das Feuer ihrer sexuellen Leidenschaft verglüht war, kamen Michel Nomen und Marie Dubost überein, sich zumindest eine Zeitlang nicht mehr zu sehen, selbst wenn sie am Ende eine freundschaftliche Beziehung knüpfen würden (wovon im Grunde weder der eine noch die andere überzeugt waren). Sie, die in Maries komfortabler, luxuriöser Wohnung Dutzende Stunden der körperlichen Verschmelzung durchlebt hatten, wurden sich zu ihrer eigenen Überraschung innerhalb weniger Tage vollkommen fremd.
Diese Begebenheit hatte jedwede Vorstellung von einer »Frau seines Lebens« aus Michels Geist verbannt und vielleicht auch, glaubte er, jedwedes Verlangen nach einer Frau.
Er beschloss, sich einen Bart wachsen zu lassen. Was recht vorteilhaft war (wie Sylvie ihm bestätigte), denn der Bart verdeckte seine groben Gesichtszüge wenigstens teilweise.
Etwas später im Monat trat er seine Stelle als Lehrer an der Kunstschule von Garches an, in einem neuen Gebäude in der Nähe der Passerelle Madeleine.
Nach der Silvesterfeier verließen Sylvie Soleares und Maurice Duplat Paris (Sylvie hatte darauf bestanden, den Namen ihres ersten Mannes zu behalten) und zogen sich in ein weitläufiges Anwesen nahe den oberitalienischen Seen zurück. Der Gesundheitszustand ihres Mannes mit den vielen Namen hatte sich verschlechtert, er liebte diesen Teil Italiens und brauchte Ruhe und Erholung, wenn er weiterhin ein Buch nach dem anderen schreiben wollte. Michel dachte bei sich, dass er wahrhaftig unter ernsthaften gesundheitlichen Beschwerden leiden musste, wenn er auf seine heißgeliebten Pariser Abende verzichtete, in denen seine Großmäuligkeit und Verführungskunst bestens zur Geltung kamen. (Zur großen Überraschung seines Bekanntenkreises gewöhnte sich Maurice Duplat allerdings problemlos an sein Rentnerleben und schrieb vor allem Bücher, die sich starkvon denen unterschieden, auf denen sein geheimer Ruhm gegründet hatte. Nachdem er auf die fernen Planeten, die Raumschiffe, die zweiköpfigen Ungeheuer und die Zeitreisen verzichtet, nachdem er auch die Pseudonyme aufgegeben hatte, fing er an, unter seinem eigenen Namen eine Reihe kurzer, einfacher Romane über seinen Alltag zu veröffentlichen, die beinahe keinen Plot hatten und beispielsweise darüber berichteten, was er an diesem oder jenem Tag getan hatte, Romane, die er hier und da mit bescheidenen Anekdoten aus seinem persönlichen Leben oder mit Dingen, die man ihm anvertraut hatte, anreicherte, und deren Titel,
Glauben Sie mir ruhig, wenn Sie mögen, Ich will es Ihnen erklären, Sagen Sie mir, wenn ich mich irre, Ein dauerhaftes Provisorium, Nach all der Zeit, Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, Ganz offen gesagt, Hätte ich das gewusst
, recht deutlich auf ihren intimen und vertraulichen Charakter hinwiesen – und deren ausbleibender Erfolg bei den Lesern ihm die höchste Genugtuung bereitete.)
Zu Beginn des Jahres 1986 entdeckte die achtundzwanzigjährige Lucie, dass sie schwanger war. Durch welches Wunder (und infolge welcher Leichtsinnigkeiten, fragte sich Michel, der gegenüber dem Liebesleben seiner Schwester weiterhin eine gewisse Abscheu empfand), war ihr schleierhaft. Sie wusste nicht, wer der Vater war, und versuchte auch gar nicht erst, es herauszufinden. Das war ihr lieber so, sagte sie
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