Gesetzlos - Roman
Rechten ein Tisch mit einem Telefon, einer Flasche Mineralwasser und einer weißen Klaviatur mit schwarzen Tasten, die ihm sicherlich erlaubten, alles im Schloss zu steuern, Strom, Türen, Erscheinen eines Hausbediensteten.
Auch ich sah Hubert Maynial unverwandt an und blickte ihm auf den letzten drei Metern fest in die Augen. Er wirkte alt, sehr alt. Warum schnitt er seine langen weißen Haare nicht ab? Ohne die Spuren jener unendlichen Müdigkeit, die seine Züge nach unten zogen und ihn entstellten, hätte sein Gesicht ansprechend sein können. Mir fiel eine gewisse Ähnlichkeit mit Cathys Gesicht auf, der Form ihrer Augen, ihrer Lippen. Er wies auf eine Holztruhe, die ungefähr einen Meter fünfzig von ihm entfernt stand und als eine Art Bank diente, deren glänzende Eisenbeschläge – so sorgfältig wurden sie offenbar geputzt – mit fein gearbeiteten Laubwerkmotiven verziert waren.
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte er.
Ich setzte mich. Mir war, als würde ich endlich aus meinem schlafwandlerischen Zustand erwachen, in dem ich mich seit meiner Abfahrt in der Rue des Martyrs befand.
Er redete nicht. Ich bat ihn, mich für meinen so späten und ungehörigen Besuch zu entschuldigen, und fing an zu erklären.
»Ich bin aus einem plötzlichen Impuls heraus zu Ihnen gekommen«, sagte ich mit fester Stimme. »Um Ihnen zu sagen, dass Sie sich irren, dass Ihre Verdächtigungen absurd und sehr schmerzlich für mich sind.«
Er starrte mich weiter an. Vielleicht wurde er sich seines Wahns bewusst. Das hoffte ich und so schien es auch.
Unumwunden stellte ich ihm meine Frage: »Haben Sie heute Abend … haben Sie zwei Männer zu mir geschickt? Vor ungefähr einer Dreiviertelstunde standen zwei Männer vor meiner Eingangstür.«
Überrascht verneinte er, in einer Weise, dass ich ihm Glauben schenkte.
»Aber beim ersten Mal haben Sie doch dahinter gesteckt?«
Ohne Zögern antwortete er:
»Ja. Ihr Kommissar hätte das gerne herausgefunden … aber ich hatte es schon fast vergessen. Ich leide unter Absencen. Außerdem war es einfacher, es abzustreiten. Ich bin müde. Für mich war die Hauptsache, dass er geht.«
Was er sagte und der Ton, in dem er es sagte, überzeugten mich davon, falls das überhaupt noch nötig war, dass ihm das Leben nichts mehr bedeutete, dass ihm nichts mehr etwas bedeutete. Erschüttert durch dem Tod seiner Frau, gelähmt durch einen Schlaganfall, zerstört, zugrunde gerichtet durch den Verlust von Cathy, war Hubert Maynial schon lange ein toter Mann.
Ich fuhr fort:
»Glauben Sie noch immer, dass ich etwas mit dem zu tun habe, was Monsieur Koenig, den ich sehr schätzte, und ihrer Tochter Cathy zugestoßen ist, die ich verehrt habe und für die ich gewiss mein Leben auf Spiel gesetzt hätte? Denken Sie das wirklich?«
Während ich meine ängstliche Tirade abspulte, mussten mir die Augen förmlich aus dem Kopf gequollen sein und meine Seele sich über mein Gesicht ergossen haben. Ich spürte, dass er berührt, ja bestürzt war. Und er tat mir leid. Vielleicht hatte er mirschon leid getan, bevor ich mich auf den Weg zu ihm gemacht hatte. Vielleicht war ich aus Mitleid gekommen, gewissermaßen um ihm Hilfe zu leisten.
Ich fürchtete, er würde gleich losschluchzen, sich am Boden zu Staub verwandeln. Er hauchte:
»Nein, dieser Wahn ist vorbei.«
Ein langer Seufzer entrang sich mir. Und auf einmal wäre ich am liebsten woanders gewesen. Ich wäre am liebsten auf der Stelle gegangen.
»Ich bitte Sie um Verzeihung«, sagte er. »Verzeihen Sie mir?«
»Ja. Reden wir nicht mehr darüber, wenn es Ihnen recht ist. Ich selbst werde mit niemandem darüber reden.« (Er machte eine wegwerfende Geste.) »Ich denke nur an Ihre Tochter. Sie haben mein ganzes Mitleid.«
»Danke, danke«, sagte er.
Er konnte sich nicht mehr zurückhalten, Tränen rannen ihm übers Gesicht. Mein Gott, ja, wie gern wäre ich jetzt woanders gewesen!
Es folgte Schweigen. Er wischte sich über die Augen.
»Sind Sie allein?«, fragte ich. »Ich dachte, Sie seien von Hausbediensteten umgeben.«
»Das ist tagsüber so. Heute Abend verspätet sich Antons Stellvertreter. Er hatte einen Autounfall, hat einen Fußgänger überfahren. Ein wahrer Nichtsnutz. Es kann eben nicht jeder wie Anton sein. Ich warte auf ihn, um auf mein Zimmer gehen zu können. Aber das spielt jetzt keine Rolle, ich kann sowieso nicht schlafen. Trotz meiner Medikamente kann ich nicht schlafen.« (Erneutes Schweigen. Er starrte mich an.) »Als Sie
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