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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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geklingelt haben, wusste ich gleich, dass Sie es sind, mein erster Gedanke war, aus meinem Rollstuhl aufzustehen und mich in diesen weniger demütigenden Sessel zu setzen. Es ist mir gelungen. Ohne fremde Hilfe, dazu hätte ich mich gar nicht für fähig gehalten. Ich weiß nicht, wie es mir gelungen ist.«
    Mein Mitleid für diesen Mann wurde erstickend. Wenn ichihn tröstete, so schien es mir, würde ich Cathy für all die Gräuel trösten, die ihr widerfahren waren. Er fuhr fort:
    »Dann … dachte ich, Sie wären gekommen um mich zu töten, stellen Sie sich vor. Ich habe es nicht wirklich geglaubt, aber ich habe es mir vorgestellt. Eine abschließende befreiende Tat, verstehen Sie?« (Nein, das verstand ich nicht.) »Am Leben hänge ich nur noch durch den seidenen Faden der Hoffnung, den Schuldigen einer Strafe zuzuführen. Wenn Sie es nicht waren, ist alle Hoffnung zunichte. Wenn die Polizei ihn jemals findet … nein, alle Hoffnung ist zunichte. Der Mann, den ich zu Unrecht bestrafen wollte, beschließt, sich zu rächen und bringt mich um, in gewisser Weise ist damit der Kreis geschlossen. Ja, ich hätte mir gewünscht, dass diese Geschichte heute Abend, jetzt ein Ende findet. Um es Ihnen gleich zu sagen, ich habe hier eine Waffe, die ich Ihnen gereicht hätte, um Ihnen die Aufgabe zu erleichtern, für den Fall dass Sie nichts dabei gehabt hätten, außer vielleicht einem albernen Messer …«
    Hubert Maynial hatte – genau wie ich – zu früh gemutmaßt, dass sein Wahn ausgestanden wäre. Während er redete, wurde mein Unbehagen immer größer, und das, was er tat, nachdem er die letzten Worte gesprochen hatte, ließ mein Blut gerinnen: Unter seinem Prälatensessel holte er die erwähnte Waffe hervor – es war der gleiche Revolver wie der vom anderen Abend, ein Feuhm S4!
    Mit der rechten Hand umklammerte er den Lauf, als wollte er ihn mir reichen, als würde sein morbider Traum auf diese Weise Gestalt annehmen – dann legte er ihn in die linke Hand und hielt ihn diesmal am Kolben fest – alles ging sehr schnell, ich konnte nichts tun, weder mich auf ihn stürzen, noch (wie die Mülltonne in der Avenue Trudaine) eine große grünliche Vase, die in Reichweite stand, auf ihn schleudern – während meine Augen sich vor Entsetzen weiteten, steckte sich der verrückte Alte den Lauf der Waffe in den Mund und drückte ab.
    Dieser Feuhm S4 hatte keinen Schalldämpfer. Der Knall warfürchterlich. Ich weiß nicht, ob es der Lärm war, der mich aufschreien ließ, oder das, was ich sah, bevor ich die Augen abwendete, unmenschliche Konvulsionen, die die Züge seines Gesichts im Moment des Schusses verzerrten. Als ich wieder hinschaute, war Maynial reglos in seinem Sessel zusammengesackt, das Kinn auf die Brust gesunken, ich sah von ihm nur noch sein langes weißes herabbaumelndes Haar.
    Ich stürzte zum Telefon, rief den Notarzt und dann Gusta, dem ich alles erzählte (von meiner Angst, als ich nach Hause gekommen war, von meinem unvorsichtigen aber unbezwingbaren Drang, alles weitere), und dessen einziger Kommentar darin bestand, mir Mut zuzusprechen, ich solle durchhalten.
    Er sagte, ich solle mich nicht von der Stelle rühren und warten. Ein überflüssiger Rat: Ich war quasi leblos, ans Kreuz der Reglosigkeit geschlagen, blieb wie versteinert sitzen, Maynial den Rücken kehrend, während mein Blick durch den Saal wanderte: über die stoffbezogenen Bänke, die Kisten mit den Geschirrbords darüber, ein zu kurzes Bett (denn zu jener mittelalterlichen Zeit schlief man aus Angst vor dem Tod gern im Sitzen), und schließlich blieb er auf den scharlachroten Miniaturen einer riesigen Manuskriptseite hängen, die gleich neben der Tür hing, durch die ich eingetreten war – später sollte ich erfahren, dass Hubert Maynials Vater ein aufs Mittelalter spezialisierter Historiker gewesen war – drei, vier, fünf Minuten verstrichen, es läutete, ich zuckte zusammen.
    Es half nichts, ich musste aufstehen, meine Beine mussten mich tragen. Vor allem musste ich die Tastatur gleich neben der Leiche, gleich neben Maynial bedienen …
    Im Augenblick darauf war der Saal so voll wie eine Bahnhofshalle, oder wie ein Ei, hätte Maxime gesagt, der gern »voll wie ein Ei« sagte (Maxime, den ich um drei Uhr morgens von zu Hause aus anrufen würde, in dieser Nacht würde ich nicht umhin können, ich war zu sehr mitgenommen), Ärzte, die Maynials Tod feststellten, Polizisten, die von den Ärzten gerufen wordenwaren, und Antoine Gusta, der

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