Gesichter der Nacht
kleine
Laderampe, und als er darauf zuging, sah er, daß Kennedy gegen
die Doppeltür lehnte, die in das Gebäude führte, und
eine Zigarette rauchte.
Kennedys Gesicht war ziemlich
verunstaltet. Seine Lippen waren aufgeplatzt und auf das Mehrfache
ihrer normalen Größe geschwollen. Als Marlowe die Stufen zur
Laderampe hinaufstieg, erkannte Kennedy ihn wieder. Einen Moment lang
starrte er ihn verdutzt an. Dann trat Furcht in seine Augen. Er drehte
sich um und verschwand fluchtartig im Lagerhaus. Marlowe blieb stehen
und zündete sich eine Zigarette an. Dann folgte er Kennedy.
Drinnen waren etliche Männer damit
beschäftigt, Äpfel in Holzkisten zu packen. In einer Ecke
befand sich ein Büro mit verglaster Vorderseite, zu dem eine
altmodische Eisentreppe führte, und Kennedy war deutlich zu sehen.
Er sprach erregt auf jemanden ein, der in einem Sessel saß.
Marlowe stieg die Stufen hinauf und öffnete die
Tür zum Büro. Außer Kennedy waren noch zwei Männer
da. Der eine, der hinterm Schreibtisch saß, war jung und
dunkelhaarig und hatte stechende, verschlagene Augen. Der andere
lümmelte sich in einem alten Lehnstuhl, dessen Sitzfläche
gefährlich durchhing. Er war der dickste Mann, den Marlowe je
gesehen hatte, mit großem, fettem Gesicht und blitzblanken blauen
Augen, die vergnügt glitzerten – er schien immer gute Laune
zu haben.
Kennedy drehte sich rasch um, offenkundig besorgt, und
Marlowe lächelte verächtlich. »Um Gottes willen,
Kennedy, schauen Sie doch nicht so, als würden Sie sich gleich in
die Hose machen.«
Kennedys Gesicht nahm jetzt einen zornigen Ausdruck
an. Er drängte sich an Marlowe vorbei, stieß die Tür
auf und eilte die Treppe hinunter. Der dicke Mann kicherte
dermaßen, daß sein unförmiger Körper wabbelte.
»Der arme Kennedy«, sagte er mit eigenartig heller Stimme.
»Er verträgt keinen Spaß. Nicht den kleinsten.«
Marlowe ignorierte ihn und wandte sich an den Mann
hinterm Schreibtisch. »Wo kann ich Sam Granby finden?«
Der junge Mann lehnte sich zurück
und warf Marlowe einen wachsamen Blick zu. »Im
Bestattungsinstitut drüben auf der anderen Seite des
Platzes«, sagte er. »Er ist gestern nacht gestorben.«
Freudlos grinsend bleckte er die Zähne. »Ich bin sein Neffe
– Tom Granby. Der Laden gehört jetzt mir.«
Marlowe nickte bedächtig. Soviel zu Maria
Magellans Hoffnungen. »Ich habe draußen eine Wagenladung
Obst und Gemüse«, sagte er. »Sind Sie
interessiert?«
Granby nahm einen Bleistift zur Hand und betrachtete
ihn nachdenklich. »Je nachdem. Von wem kommen Sie?«
Marlowe bemühte sich, den Zorn, der in ihm
aufstieg, im Zaum zu halten. »Sie wissen verdammt genau, von wem
ich komme, mein Bester«, sagte er. »Was soll diese
Schmierenkomödie?«
Der dicke Mann mußte wieder kichern. »Das
ist gut«, keuchte er. »Das ist wirklich lustig.«
Marlowe sagte über seine Schulter hinweg: »Niemand hat Sie um einen Kommentar gebeten.«
Die Miene des anderen war immer noch vergnügt,
aber in den Augen hatte er nun einen anderen Ausdruck. Er kicherte
wieder so heftig, daß es ihn schüttelte. »Das ist noch
lustiger. Erklären Sie's ihm, Tom.«
Granby räusperte sich und sagte mit diebischem
Vergnügen: »Das ist mein neuer Partner – Mr.
O'Connor.«
Marlowe wandte sich dem dicken Mann zu und musterte
ihn verächtlich. »Sie sind also der große
O'Connor?« fragte er schließlich.
O'Connor wischte sich mit einem weißen
Taschentuch die Augen. »Und Sie sind der Mann, der Kennedy
gestern verwamst hat.«
Er betrachtete prüfend Marlowes massige Gestalt
und nickte. »Das hätte ich gern gesehen. Sie sind ein
Mordskerl, mein Lieber. Ein großer Kämpfer.«
»Aber nicht so groß, daß er nicht mal heruntergeputzt werden kann«, sagte Granby giftig.
Marlowe drehte sich um. Seine linke Hand
schoß vor. Er packte Tom Granby und zog ihn halb über den
Schreibtisch. Einen Moment lang blickte er eiskalt in die erschreckten
Augen des anderen. »Wenn Sie mir noch mal dumm kommen, mach' ich
Sie fertig, Sie Null«, sagte er. Er lockerte den Griff, und
Granby fiel in seinen Sessel zurück.
O'Connor schüttelte den Kopf und schnalzte mit
der Zunge. »Wie dumm von Ihnen, Tom. Das haben Sie sich wirklich
selbst zuzuschreiben.« Sein Blick wanderte wieder zu Marlowe.
»Magellan ist erledigt, glauben Sie mir. In spätestens einer
Woche wird er Ihnen nicht mal mehr Ihren Lohn zahlen
können.«
Marlowe
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