Gesichter der Nacht
schüttelte den Kopf. »Das ist
zu weit«, sagte er. Marlowe wollte etwas dagegen einwenden, aber
der alte Mann hob abwehrend die Hand. »Hören Sie mir zu,
mein Junge. Unsere Ware ist zum größten Teil leicht
verderblich. Wir handeln ziemlich viel mit Frischobst. Es muß in
aller Frühe geliefert werden, damit es in möglichst gutem
Zustand in die Geschäfte kommt.«
»Und wo ist da das Problem?« fragte
Marlowe. »Wir fahren in der Nacht nach London. Ist doch
wunderbar. O'Connor wird nicht einmal wissen, was wir vorhaben.«
Maria schaute ihn zweifelnd an. »Ich weiß
nicht, Hugh. Es ist eine lange Fahrt. Über dreihundert Kilometer.
Das wäre Knochenarbeit.«
Marlowe zuckte die Achseln.
»Dreihundert Kilometer – was ist das schon! Die
Straßen sind leer um diese Zeit. Das ist ein Kinderspiel.«
Er blickte von Maria zu ihrem Vater. Der alte Mann
schien immer noch unschlüssig zu sein, und Marlowe sagte
ungeduldig: »Um Gottes willen, Papa, das ist Ihre einzige Chance.
Versuchen Sie's doch wenigstens.«
Der alte Mann patschte sich mit der Hand aufs Knie und
stand auf. »Sie haben recht!« rief er mit leuchtenden
Augen. »Wir werden kämpfen.« Er nahm sein Jackett von
der Stuhllehne und zog es an. »Wir werden nicht kuschen vor
diesem Schwein.«
»Wohin gehst du, Papa?« fragte Maria.
Er brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen,
und seine Summe klang streng. »Misch dich da nicht ein, Maria.
Ich fahre jetzt mit dem anderen Lastwagen los. Ich muß bei den
Gärtnereien die Runde machen und ihnen sagen, daß wir alles
im Griff haben. Außerdem brauchen wir mehr Ware. Wenn Hugh schon
den ganzen Weg nach London fährt, muß sich das auch
lohnen.«
»Aber das Essen ist gleich fertig, Papa«, sagte Maria. »Du kannst jetzt nicht gehen.«
»Ich esse, wenn ich wieder da bin«,
erwiderte er. »Ist das denn so eine Affäre, wenn unser
Lebensunterhalt auf dem Spiel steht?«
Er ging aus dem Zimmer, und die Haustür fiel
krachend ins Schloß. Marlowe lachte. »Der alte Junge hat
wirklich noch Mumm in den Knochen«, bemerkte er.
Maria nickte. »Papa kann sehr entschlossen sein,
wenn er sich etwas vorgenommen hat. Er ist ein richtiger Mann –
im Gegensatz zu O'Connor.«
Einen Augenblick herrschte verlegenes
Schweigen. Maria spielte nervös mit ihrer Schürze. Es hatte
wieder zu regnen begonnen. Schwere Tropfen klopften ans Fenster. Maria
lachte unsicher. »Das ist ein recht trauriges Geräusch,
finden Sie nicht?«
Marlowe dachte daran, wie oft er auf der Pritsche in
seiner Zelle gelegen, dem Regen zugehört und sich danach gesehnt
hatte, frei zu sein. »Es ist so ziemlich das traurigste
Geräusch, das es gibt«, sagte er mit Überzeugung.
Einen Moment lang waren sie einander sehr nah. Als
hätte jeder etwas am anderen entdeckt, das ihm bisher entgangen
war. Maria blühte auf. Sie lächelte freundlich und sagte:
»Kommen Sie mit in die Küche. Ich mache Ihnen eine Tasse
Tee. Sie hatten einen anstrengenden Vormittag.«
Er folgte ihr über den Flur in die große,
altmodische Küche, in der es warm und gemütlich war und nach
Essen roch. Er saß auf der Tischkante, ließ die Beine
baumeln, rauchte eine Zigarette und war. so friedlich wie schon seit
langem nicht mehr.
Er beobachtete Maria, die in der Küche hin und
her ging, Tee und Teegeschirr holte, Wasser aufsetzte… Ihre
Glieder waren sanft gerundet, und als sie sich bückte, um ein Tuch
aufzuheben, zog sich ihr Kleid straff, zeigte die bogige Form ihres
Oberschenkels, betonte ihre breiten Hüften. Marlowe konnte sie
sich gut als Mutter vorstellen.
Seine Gedanken schweiften zu Jenny O'Connor mit ihrer
knabenhaften Schlankheit, und er versuchte, die beiden Frauen zu
vergleichen. Er kam zu dem Schluß, daß es unmöglich
war. Jenny war auf den ersten Blick ungeheuer attraktiv. Es ging etwas
Animalisches von ihr aus, das einen Mann packte wie ein Fieber, eine
Sehnsucht weckte, die nur gestillt werden konnte, wenn er diese Frau
ganz und gar besaß.
Mit Maria verhielt es sich anders, das wußte er.
Tief in ihrem Inneren glühte eine Sinnlichkeit, aus der eine
Flamme wachsen konnte, die nie erlosch. Diese Frau würde viel
verlangen, aber auch viel geben.
Sie drehte sich vom Herd weg und stellte
Marlowe seinen Tee hin. Ihr Lächeln war wie ein Licht, das in ihr
aufging und ihr ganzes Gesicht erhellte. »Ich glaube, ich
muß mich bei Ihnen entschuldigen, Hugh«, sagte sie.
Es war das zweitemal in
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