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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schäfer
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die Gruppe wahr, die konzentrierte Stille, wie zum Greifen jedes Mal, wenn er einen Satz beendete. Arbeitsstationen, sein Wechsel von der Demenzforschung zur Prosopagnosie, er stellte die Hirnareale vor, die für die Gesichtswahrnehmung zuständig sind, und kam zur Gesichtserkennung. Die Wahrnehmung von Gesichtern vollziehe sich auf getrennt voneinander verlaufenden Pfaden. Genau genommen sehe man nicht ein, sondern mehrere Gesichter, die wie Folien übereinandergelegt und schließlich zu einem Eindruck synthetisiert würden. »Ein Pfad prüft, ob das Gesicht wohlgesinnt oder feindlich wirkt, ein anderer seine Attraktivität, während ein dritter Mechanismus die Frage klärt: Was will es von mir?«
    Erste Lacher aus dem Publikum.
    Erstaunlicherweise verliefen diese Prozesse bei den meisten Gesichtsblinden wie am Schnürchen, Überleben und Fortpflanzung seien also gesichert.
    Wieder Lachen.
    »Nur der eine, der letzte Verarbeitungsprozess läuft ins Leere. Wer guckt mich da so an? Die Frage, die das Gehirn bei den meisten von uns dankenswerterweise Hunderte Male am Tag mit schlafwandlerischer Sicherheit beantwortet, bevor sie uns bewusst wird, hinterlässt bei den Betroffenen ein verwirrendes, ein schreckliches Fragezeichen.«
    Er berichtete von dem Patienten, der seinen Sohn immer dann nicht erkannte, nachdem er mit ihm geangelt hatte oder Fahrrad gefahren war. »Er erkannte seinen Sohn genau dann nicht, wenn er viel Zeit mit ihm verbracht hatte.« Aufmerksamkeit, rein wie Quellwasser, ein Glück, das den Herzschlag verlangsamte. Er hob die Hände, als wollte er sagen: Ich kenne die Antwort auch nicht. Er stand auf und begann beim Sprechen hin und her zu gehen, selbstsicher wie vor einer halben Hundertschaft wissbegieriger Studenten.
    Er hörte sich sagen: »Es gibt die unauffälligen Partien und die heißen, die einprägsamen Zonen. Wir unterscheiden Gesichter ausschließlich an diesen hellen Bereichen, während wir den Rest übersehen.« Er sagte: »Egal wie vertraut uns jemand ist, wir können ihn niemals ansehen, ohne auch überrascht zu werden.«
    Als er die Arbeitsgruppe erwähnte, die sich der Gesichtserkennung bei Gesunden widmen sollte, glaubte er die Spannung, die plötzlich in der Luft lag wie ein höher gewordenes Hintergrundrauschen, zu hören. Wie viele Plätze waren zu vergeben? Wie sollte sich die Zusammenarbeit mit den Wahrnehmungspsychologen gestalten? Und vor allem: Mit welchen Drittmitteln war von welcher Seite zu rechnen?
    Plötzlich unterbrach er sich. Hinter ihm war die Tür ins Schloss gefallen, und er wandte sich um, aber es war niemand hereingekommen. Er schwieg, als hätte er den Faden verloren, seine Hand rutschte unter das Revers seines Jacketts, wo die üppige Förderzusage eines Kontaktlinsenherstellers darauf wartete, zum Abschluss präsentiert zu werden wie ein Angebot, zu dem die Kommission nicht würde Nein sagen können. Aber als er seine Finger wieder hervorzog, hielt er eine Ansichtskarte aus Griechenland in der Hand. Er starrte auf die blau-weiß gestreifte Markise einer Inseltaverne, Stühle mit Bastgeflecht, Marmortische, zwei Alte, die ihre zerfurchten Gesichtslandschaften in die Kamera hielten. Er drehte sie um.
    »Ich bin bei Dir«, hörte er sich lesen. »Brot, Wasser, das Land der Bohnensuppe und Orangen.«
    Lavinia schaute erschrocken, als sähe sie schon den Fehler, den er als Nächstes begehen würde. Overkamp staunte ihn an wie ein seltenes Insekt. Am Hals der Anästhesistin leuchteten rote Aufregungsflecken. Gabors Blick wanderte durch die Reihen. Der blonde Assistent mit Sommersprossen, das verängstigte Mäusegesicht seiner jüngsten Mitarbeiterin. Überall entgeisterte, fragende Blicke. Yann nickte ihm langsam zu, als gelte es, einen Durchdrehenden zu beruhigen.
    Das zögerliche Klopfen, das schließlich einsetzte, hörte er wie vom anderen Ende einer Halle. Overkamp änderte ächzend seine Position, der Kardiologe räusperte sich, und dann brachten sie, um der Form zu genügen, die Sache zu ihrem Ende. Seine Wangenmuskulatur schmerzte, während er Fragen beantwortete, an die er sich Sekunden später nicht mehr hätte erinnern können, und etwas über die »Prioritäten seiner Lehrtätigkeit« von sich gab. Schließlich bedankte sich Overkamp mit messerdünnem Lächeln. Erneutes Klopfen, Kratzen, mit dem Stuhlbeine über den Boden rutschten. Die Wörter »Schöner Vortrag« drangen zu ihm, während er seine Mappe in der Tasche verstaute, doch als er aufblickte,

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