Gesichter: Roman (German Edition)
den Schlauch rasselte, durchperlte ihn ein irrsinniges »Ahh!«. Er rutschte auf Knien, kratzte mit den Fingern Kügelchen aus dem Gras, beobachtet von Frau Hauenstein, die ihm vom Fenster ihrer Küche beruhigend zunickte, sobald er zu ihr hinsah, und den gestreckten Daumen in die Höhe hielt, als wollte sie sagen: »Keine Sorge, meine Lippen sind versiegelt.«
In der Nacht schreckte er auf. Berit lag noch genauso da – Rücken zu ihm, Decke bis zu den Ohren –, wie sie gelegen hatte, nachdem sie gegen elf wortlos das Licht gelöscht hatte. Irgendwie war dieser Tag ohne ein weiteres böses Wort zwischen ihnen zu Ende gegangen, in verbissen durchgehaltener Gleichgültigkeit. Er sank zurück, schnellte aber sofort wieder hoch, weil er in einem Meer aus Daunen zu ertrinken drohte. Er stopfte sich das Kissen in den Rücken und hielt die Luft an, um zu lauschen, aber es war nichts zu hören. Stattdessen stand ihm in ganzer Pracht die Szene des gestrigen Nachmittags vor Augen: wie er, Gabor Lorenz, im Anzug durch seinen Vorgarten robbte, und, wirr vor sich hin murmelnd, den Rasen saugte. Seine Wangen brannten vor Scham. Er sah sich selbst nackt in einer dunklen, stinkenden Mülltonne kauern, deren Deckel vorsichtig angehoben wurde: seine Nachbarn, die neugierig zu ihm hinunterschauten.
Gabor warf die Decke von sich. Er hatte etwas gehört. Im Flur blieb er stehen. Das Geräusch kam aus dem Wohnzimmer, ein hohes Quietschen, als würde jemand ein Glas über den Tisch schieben. Während er die Treppe hinunterging, war er felsenfest davon überzeugt, dass jemand unten auf ihn wartete und bei seinem Eintritt die Stehlampe anknipsen würde wie der bedauernd lächelnde Geldeintreiber in einem amerikanischen Film, doch als er auf der untersten Stufe stand, hörte das Geräusch schlagartig auf. Er tastete nach dem Lichtschalter und wusste in dem Augenblick, in dem seine Finger das Plastik berührten, dass das Zimmer leer sein würde. Die Lampe leuchtete auf und erhellte den Raum. Die Regale mit den Bildbänden, die Sofalandschaft, die Wasserkaraffe und Gläser auf dem Hocker. Niemand war da.
Er musste mit Berit reden, jetzt, doch er hatte keinen Schimmer, womit beginnen. Selbst der Moment am Hafen von Patras, der Augenblick, als ihm der Mann auffiel, schien nicht der Beginn, sondern die Folge von etwas zu sein, dessen Ursprung sich in undurchsichtigem Nebel immer weiter zu entfernen schien. Plötzlich hielt er inne. Das Geräusch war wieder da. Schritte in der Küche. Das feine Knirschen, mit dem Steinchen über Bodenfliesen kratzten. Verzweiflung packte ihn, die nackte Panik über die Schimären seiner Einbildung. Er versuchte der Kraft zu widerstehen, die ihn wie an Gummibändern zurück in den Flur zog, er presste die Hände auf seine Ohren, um nichts zu hören, befahl sich, hinaufzugehen, aber es gelang ihm nicht. Nach fünf schnellen Schritten knallte er die Hand auf den Lichtschalter der Küche und stand schnaufend im grellen Widerschein der chromglänzenden Hängeschränke, in Berits penibler Ordnung, in der noch Spuren erkalteten Zigarettenrauchs zu erahnen waren. Er riss die Terrassentür auf und flüchtete in die Kälte, mit nichts als einem Pyjama am Leib. Die beißende Luft zog die Hautporen auf seinen Wangen zusammen, barfuß stolperte er durchs feuchte Gras, torkelte durch die Gartenpforte auf den weichen, nadelbedeckten Boden des Waldes, der hinter ihrem Grundstück begann und über die stillgelegten Gleise bis zur Stadtgrenze, bis zum ehemaligen Mauerstreifen reichte. Er tauchte in Dunkelheit, stürzte zwischen den Stämmen hindurch immer weiter, bis er sich gegen einen Baum lehnte, schnaufend wie ein erschöpfter Jogger. Sobald er die Augen schloss, sah er die Kanten zweier Handballen und die gekrümmten Finger an der Scheibe, die ein verschattetes Gesicht umschlossen, während er selbst wenige Meter entfernt im Ledersessel saß und sich wünschte, er wäre unsichtbar.
Kyras Schönheit hielt nicht stand. Oder zumindest nicht das, was Gabor sich von ihrer Nähe versprochen hatte. Sie verbrachten einen einzigen Nachmittag zu dritt, er war aufgeregt wie vor einer Verabredung. Es war sein Vorschlag gewesen, und nachdem Yann einen Moment lang abwesend an ihm vorbeigesehen hatte, hatte er gesagt: »Warum eigentlich nicht?« Sie verabredeten sich am Schwabentor und spazierten zwischen Rebhängen den Schlossberg hinauf – eine schlechte Idee, denn die beiden hielten die ganze Zeit Händchen, und als der Weg
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