Gesponnen aus Gefuehlen
Küche des Hauses, in dem sie Zuflucht gefunden hatte. Weiße Vorhänge flatterten vor dem Fenster, auf dessen Sims bunte Blumentöpfe standen. Der Duft des Tees, den sie in der Hand hielt, hüllte sie ein. Ms. Granger, der die Pension gehörte, schwatzte unaufhörlich, während sie Eier und Schinken für Lucy briet. Lucy glaubte nicht, dass die Frau auf ihre zahlreichen Fragen Antworten erwartete. Sie war einfach froh, dass sich jemand herverirrt hatte, mit dem sie reden konnte.
Lucys Gedanken drifteten zu Nathan. Seit sie aufgewacht war, hatte sie genau dies zu vermeiden versucht. Jetzt bildete sich in ihrem Magen ein Knoten. Sie sah ihn verletzt auf dem Boden der Kate liegen, der Wut dieser bulligen Männer ausgeliefert. Was hatten sie mit ihm angestellt? Sie hielt es für ausgeschlossen, dass er hatte fliehen können.
Der Umschlag fiel ihr ein, den sie aus dem Handschuhfach gezogen hatte. Nathan hatte gesagt, dass er Geld darin versteckt hatte. Sie musste prüfen, wie es darum stand. Ob sie riskieren sollte, Colin anzurufen? Nathan hatte sie davor gewarnt. Aber Batiste de Tremaine konnte unmöglich die Telefone ihre Freunde überwachen lassen. Oder etwa doch? Lucy fühlte sich allein. Hätte sie Nathan früher vertraut, hätten sie gemeinsam Pläne schmieden können. Sie wären längst fort gewesen und Nathan wäre jetzt bei ihr. Aber das hatte sie nicht gekonnt. Es war so eindeutig gewesen, dass er sie betrog. Sie fühlte sich ausgelaugt vom vielen Grübeln. Die Aufregung der letzten Tage hatte ihr zugesetzt. Sie war nicht fähig, eine Entscheidung zu treffen und wünschte sich, einfach nur sitzen bleiben zu können und Ms. Granger bei ihrem Geplapper zuzuhören. Aber das ging nicht. Sie musste handeln. Sie musste herausbekommen, wie es Nathan ging. Sie musste verhindern, dass sein Großvater ihn zwang, weitere Bücher zu stehlen.
Was hatte ihre Mutter ihr zugeflüstert? »Er wird dir nichts anhaben. Er gehört zu dir. Du darfst ihn nicht gehen lassen. Hör auf dein Herz. Du kannst ihm vertrauen.«
Und was hatten die Bücher gesagt? »Du wirst seine Hilfe brauchen. Du musst Vertrauen haben. Nur gemeinsam könnt ihr uns retten! So ist es vorherbestimmt.«
Konnte das sein? Meinten die Bücher Nathan?
Lucy versuchte, die Puzzleteilchen in ihrem Kopf zu sortieren.
War das des Rätsels Lösung. Sie konnte die Aufgabe nicht allein bewältigen. Sie brauchte ihn dazu. Weshalb war sie nicht früher darauf gekommen? Lucy schlug sich mit der Hand an die Stirn. Weil sie bockig und wütend gewesen war. Weil sie den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen hatte. Weil sie nur an sich gedacht hatte und damit beschäftigt gewesen war, sich selbst zu bemitleiden. Sie war so blöd gewesen.
Nach dem Essen entschuldigte sie sich und ging auf ihr Zimmer. Sie kippte den Inhalt des Umschlages auf die geblümte Bettdecke. Jede Menge Pfundnoten und eine Handvoll Pencestücke klimperten auf den weichen Untergrund. Zum Schluss trudelte eine Visitenkarte heraus, nach der Lucy griff. Auf weißem Papier stand in schwarzer Schrift Nathans Name mit einer ihr unbekannten Anschrift. Es war nicht schwer zu verstehen, dass es sich um die Adresse des Landsitzes der de Tremaines handelte. Unentschlossen drehte Lucy die Karte in den Händen.
Am nächsten Morgen verstaute sie das Geld, das sie besaß, in ihrer Jackentasche und machte sich auf den Weg zu der alten Bibliothek von Cardiff. Das Medaillon ruhte sicher an ihrem Hals. Die Bibliothek war mit ihrem Bestand längst in ein modernes Gebäude umgezogen. Allerdings war das Archiv noch in dem historischen Gemäuer untergebracht. Der vertraute muffige Geruch alter Bücher begrüßte sie. Lucy war vorher nie hier gewesen, aber wieder einmal verblüffte sie die Erkenntnis, dass sich die Räumlichkeiten von Bibliotheken auf unerklärliche Weise zu ähneln schienen. Sie vermutete, dass es an der Stille lag, die einen umgab, kaum dass man einen Lesesaal oder ein Archiv betrat. Vielleicht empfand aber auch nur sie das so.
Sie war nicht auf der Suche nach einem bestimmten Buch. Sie war auf der Suche nach Antworten auf ihre Fragen und sie hoffte, diese hier zu finden. In Cardiff war das Archiv für Besucher zugänglich. Die Dame am Infoschalter hatte ihr anstandslos eine Besucherkarte ausgehändigt. Wie erwartet, waren die Räumlichkeiten um diese Tageszeit nicht sonderlich gut besucht. Außer den vielen Tischen, die im vorderen Bereich aufgestellt waren, befand sich in dem geräumigen Saal
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