Gesponnen aus Gefuehlen
zog.
»Das geht uns nichts an«, flüsterte er, als die Frau sich losreißen wollte. »Das ist eine Sache zwischen Jonathan und seinem Vater, Sofia. Er hätte wissen müssen, dass er ihn nie gehen lassen würde. Er braucht einen Erben.«
Die Frau auf dem Weg hatte mittlerweile begonnen zu schreien. Ihre Schreie mischten sich mit dem Gebrüll des Kindes. Der Lärm erschien Lucy ohrenbetäubend. Auf dem Weg schien sich ein Kampf abzuspielen. Lucy wünschte, die Bilder wären deutlicher. Doch auch so sah sie, dass die Frau und der Mann unerbittlich zum Ausgang geschoben wurden. Nathan weinte verzweifelt. Dann öffneten sich die Flügel des eisernen Gitters einen Spalt, um sich hinter Nathans Eltern sogleich wieder zu schließen. Die Schreie der Frau steigerten sich. »Gebt mir mein Kind zurück. Das könnt ihr nicht tun. Bitte, bitte!«
Lucy hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, so viel Schmerz sprang ihr aus den Rufen entgegen. Die Frau schien nie mehr aufhören zu wollen. Die beiden dunklen Gestalten näherten sich wieder der Eingangstür des Hauses. In ihrem Arm trug die eine das wimmernde Kind.
Der Mann im Haus zog die Frau, die er mit Sofia angesprochen hatte, in eine Nische hinter der Tür. Die beiden Gestalten, in denen Lucy Sirius und Orion erkannte, durchschritten den Eingang, ohne auf das Paar zu achten, und betraten kurz darauf den Saal. Die Tür fiel krachend hinter ihnen ins Schloss. Sofia riss sich von dem Mann los und stürmte den Weg zum Tor hinunter. Die junge Frau kniete im Kies der Einfahrt auf der anderen Seite des Tores und schluchzte. Nathans Vater hatte die Arme um sie geschlungen, auch aus seinen Augen strömten Tränen. Als Sofia die beiden erreichte, fasste Louisa verzweifelt nach ihren Händen. »Bitte, Sofia bring mir Nathan zurück. Ich kann ihn nicht hierlassen. Er braucht mich. Er ist doch noch so klein. Er kann nicht bei diesem Ungeheuer bleiben. Er wird zugrunde gehen.«
Flehend sahen die beiden Sofia durch die Streben des Gitters an.
»Das kann ich nicht. Sie haben ihn zu Sir de Tremaine gebracht. Vielleicht in ein paar Tagen. Ich werde versuchen, was ich kann. Jonathan, bring Louisa fort! Wer weiß, welche Teufelei dein Vater sich sonst ausdenkt. Ich melde mich bei euch.«
Jonathan griff nun ebenfalls nach Sofias Händen. »Du musst auf ihn aufpassen, Sofia. Versprichst du uns das? Du bist die Einzige, die das jetzt kann. Wir vertrauen dir unseren Sohn an. Wir werden um ihn kämpfen, aber wir wissen beide, welche Macht mein Vater hat. Es wird dauern, bis wir unser Kind zurückbekommen. Bis dahin musst du für Nathan da sein. Bitte, wir flehen dich an. Lass ihn nicht allein!«
Sofia nickte zögernd. »Ich verspreche es«, flüsterte sie.
Das Bild verschwand im Inneren des Medaillons und Lucy lehnte sich erschöpft an eins der Regale.
»Du musst es ihm sagen. Er muss die Wahrheit erfahren«, flüsterte ihr eins der Bücher, das neben ihr stand, ins Ohr. »Er muss erfahren, was sein Großvater ihm und seinen Eltern angetan hat. Sein Vater hat sich geweigert, uns zu stehlen. Er war ein tapferer Mann.«
»War?«, fragte Lucy. In diesem Moment bog eine ältere Frau in den Gang ein, in dem Lucy stand. Sie musterte sie kurz und begann, nach einem Buch zu suchen.
Lucy hielte es für klüger, den Lesesaal zu verlassen.
*********
Es war stockfinster und Nathan war gerade in einen unruhigen Schlaf gefallen, als er unsanft geweckt wurde. Erschrocken fuhr er hoch.
»Steh auf und zieh dich an. Es gibt etwas für dich zu tun«, grollte Sirius’ Stimme durch den Raum.
Benommen schüttelte Nathan den Kopf und folgte den Anweisungen. Was konnte sein Großvater zu dieser Zeit von ihm wollen? Zwei Tage hatte er ihn im Zimmer eingeschlossen und nur zu den Mahlzeiten hatte er Sofia zu Gesicht bekommen. Allerdings hatte sie ihm das Essen immer in Begleitung von Sirius gebracht, sodass sie nicht miteinander sprechen konnten. Was also war so wichtig für seinen Großvater, dass es nicht bis zum nächsten Morgen warten konnte? Nathan ahnte Übles.
Nachdem er angezogen war, folgte er Sirius durch das schlafende Haus quer über den Vorplatz. Es war nicht schwer zu erraten, wohin er ihn brachte. Ihr Ziel war die Kapelle, unter der sich in den Tiefen der Felsen, die die Küste Cornwalls säumten, die Bibliothek des Bundes befand.
Sein Großvater erwartete ihn bereits. Er führte ihn wortlos in den hinteren Bereich des Raumes. Dort deutete er auf einen ausladenden alten
Weitere Kostenlose Bücher