Gesponnen aus Gefuehlen
Wenn es nicht funktioniert, dann renn. Renn so schnell du kannst.«
Lucy sah ihr nach, wie sie das Haus verließ.
Nathan hatte ihr gesagt, dass nur sein Großvater Zugang zu der Bibliothek hatte. Aber irgendwie musste Orion hineinkommen. Wahrscheinlich konnte Batiste seine Befugnis auf andere Personen übertragen. Sie musste in die Kapelle gelangen und sich dort umschauen. Vielleicht entdeckte sie etwas. Oder sie würde sich verstecken und Orion beobachten. Wenn sie allein anfing zu suchen, konnte das Stunden dauern. So viel Zeit hatte sie nicht. Ihr Plan ließ ihr kein besonders großes Zeitfenster.
Als es dunkel wurde, zog Lucy sich ihre Schuhe und ihre Jacke an. Orion konnte sich zwar in einen Hund verwandeln, aber er konnte nicht durch Wände schauen. Hoffte sie jedenfalls.
Im Schutze der Büsche, die an den Rändern der Wege wuchsen, tastete Lucy sich zu dem alten Gemäuer vor.
Wie das Haus bestand die Kapelle aus Sandsteinblöcken. Das spitze Dach war mit schwarzen Schieferplatten gedeckt und in die Seitenwände waren hohe Bogenfenster eingelassen. Das dunkle Eichenholztor stand einen Spaltbreit offen. Lucy versteckte sich hinter einer uralten Buche, die der Kapelle gegenüberstand. Eine Zeit lang beobachtete sie das Haus. Ob Orion mit Nathan in der Bibliothek war, oder ob er in der Kapelle wartete, bis es Zeit war, Nathan Essen zu bringen? Sie sah auf ihre Uhr. Halb sieben. Wenn sie Orion dabei beobachten wollte, wie er diesen geheimen Raum, oder was immer es war, verließ, musste sie jetzt hinein. Lucy presste ihre kalten Hände an den Stamm des alten Baumes. Sie wünschte sich, er könnte ihr Kraft geben und ihr die Angst nehmen. Sie machte sich keine Illusionen, was passierte, wenn Orion sie entdeckte. Allein hatte sie gegen ihn keine Chance. Er würde sie einsperren und Batiste zurückrufen. Noch einmal gelang es Nathan sicher nicht, sie von hier fortzubringen. Batiste würde sie diesem Mann ausliefern und dann … Lucy wagte nicht, weiter zu denken. Sie musste Nathan befreien und mit ihm fortgehen. Sie musste einen Schritt nach dem anderen gehen und hoffen, dass ihr niemand ein Bein stellte.
Im Schutze der Dunkelheit lief Lucy zu dem kleinen Haus. Das Glück war auf ihrer Seite. Ungesehen erreichte sie die Tür. Der Spalt war so schmal, dass sie sich nur mit Mühe hineinzwängen konnte, doch sie wagte nicht, die Tür aufzustoßen. Alte Türen machten in der Regel Geräusche und dann verriet sie sich sofort. In der Kapelle herrschte schummriges Licht, das von den wenigen Kerzen stammte, die auf einem Altar flackerten. Lucy blieb in der Tür stehen und sah sich aufmerksam um. Der Raum war leer. Orion saß weder auf einer der Bänke, noch lehnte er am Altar oder einer Wand.
Lucy wusste nicht, was sie erwartet hatte. Dieser Raum war zwar wunderschön, aber alles andere als ungewöhnlich. Ein zufälliger Besucher würde ein normales Gotteshaus vorfinden. Wenn Lucy nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie Nathan mit Batiste und Orion hineingegangen war und wie Batiste allein herausgekommen war, würde sie hier keine Menschenseele vermuten.
Es musste einen Zugang zu der Bibliothek des Bundes geben. Einen Zugang, den sie niemals finden würde. Sofia hatte recht gehabt. Versuchen musste sie es allerdings. Auf Zehenspitzen lief Lucy zum Altar. Die Angst, dass Orion plötzlich vor ihr aufragte, versuchte sie zu verdrängen. Trotzdem zitterten ihre Hände, als sie nach einer der Kerzen griff. Leise huschte sie von Ecke zu Ecke. Aufmerksam musterte sie jeden Stein in der Wand und im Boden, doch nichts ließ auf einen Eingang schließen.
Lucy lief zurück zum Altar, der bis auf ein Kreuz, das hinter ihm an der Wand hing, seltsam schmucklos war. Langsam umrundete sie ihn. Dahinter kam eine Treppe zum Vorschein. Sie beugte sich über das Geländer und starrte in einen finsteren Abgrund. Das musste die Krypta sein, von der Sofia gesprochen hatte. Ob Orion dort unten im Dunkeln stand? Sie griff nach einer der Kerzen, die unbenutzt neben dem Alter lagen, und ließ sie fallen. Viel Krach machte sie nicht auf der Treppe, aber immerhin reichte das Geräusch aus, um einen etwaigen Bewacher hervorzulocken. Es sei denn, Orion wartete seelenruhig darauf, dass sie ihm in die Arme lief. Lucy zögerte. Sollte sie es wagen, hinunterzugehen? Alles in ihr schrie nein. Das würde nicht gut gehen, aber was war die Alternative? Lauf weg, flüsterte ihre innere Stimme.
Lucy setzte einen Fuß auf die oberste Stufe. Die schmale
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