Geständnis unterm Mistelzweig
sie.”
“Erinnerst du dich noch an deine Eltern?”
“Oh ja.”
Das schien Roxanne zufrieden zu stellen. Während Chloe die Kette an einem Ende festhielt, wickelte Roxanne sie sorgfältig um das Geländer, bis die Treppe mit einem hellen farbigen Band geschmückt war. Als sie fast fertig war, entfernte Roxanne ein Kettenglied, ein rotes, und steckte es in die Tasche. “Das bewahre ich auf”, erklärte sie.
Dann verschwand sie im Haus.
Egan traf Chloe auf der Treppe. Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals so still, so blass und so erschüttert gesehen zu haben.
Er setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. Sie lehnte sich an ihn und verbarg das Gesicht an seinem Hals.
“Kann ich helfen?” fragte er.
Er spürte, dass sie den Kopf schüttelte.
“Soll ich das Liedersingen für heute Abend absagen?”
Wieder schüttelte sie den Kopf.
“Vielleicht wirst du dir wünschen, ich hätte es getan, nachdem du mich hast singen hören. Das hast du sicher noch nie erlebt.”
“Lass einfach deine Arme für eine Minute da, wo sie gerade sind, Egan.”
“Meinetwegen können wir hier für immer so sitzen.”
“So lange muss es nicht dauern.”
Egan winkte Bunny und Jennifer zu, die vorbeikamen.
“Ich bin einen Zoll gewachsen”, rief Jennifer ihm zu. “Einen ganzen Zoll! Der Arzt sagt, mein Wachstum nimmt wieder zu.”
“Das ist ja toll. Nun iss schnell ein paar Würstchen und wachs noch einen Zoll.”
“Was hat Chloe?”
“Ich glaube, sie ist müde.” Egan spürte, dass Chloe nickte. “Sie sagt Ja.”
“Sie darf nicht müde sein. Wir wollen doch Weihnachtslieder singen, oder etwa nicht?” fragte Bunny.
“Ich trage sie Huckepack”, bot Egan an.
Kichernd verschwanden die beiden Mädchen.
Egan hatte den Eindruck, dass es an seinem Hals verdächtig feucht wurde. “Einen Zoll -- das ist ein gutes Zeichen, nicht wahr? Chloe, ich bin ja bereit, alles auf der Welt für dich zu tun. Aber wenn du noch einmal nickst oder den Kopf schüttelst, wird mein Hals auf Dauer ausgerenkt sein.”
Chloe musste lachen. Sie hob das tränenüberströmte Gesicht. “Sind wir allein?”
“Im Moment ja.”
“Gut.” Ihre Lippen fanden seine. Egan schmeckte Salz und Gefühle, und die Mischung aus beidem gefiel ihm sehr. Wärme durchzog ihn, wurde schnell zu Verlangen. Das Verlangen wurde in diesen Tagen schnell in ihm wach. Chloes Stimme am Telefon, der zarte Duft, der von ihr ausging, der Anblick ihres glänzenden schwarzen Haars -- und sofort sehnte er sich danach, sie zu berühren.
“Huckepack?” fragte Chloe schließlich.
“Das habe ich nur so gesagt. Du gehst.”
“Schade.”
“Bist du sicher, dass du es schaffst?”
“Auf jeden Fall. Neun Mädchen haben sich bereit erklärt, mit uns zu kommen. Das ist ein Rekord. Noch nie waren neun Mädchen auf einmal damit einverstanden, dasselbe zu tun.”
“Es wundert mich, dass drei meinem Charme widerstehen können.”
“Shandra hat Halsschmerzen, und Vicky und Lianne besuchen ein Konzert in der Schule.”
“Diese Entschuldigungen erkenne ich an.” Egan stand auf, um der wachsenden Versuchung zu entgehen, Chloe noch einmal zu küssen. Die Versuchung wurde noch stärker, als sie den Arm hob, um sich die Augen trocken zu wischen, und dabei ihr Pullover hochrutschte und ein Stück nackter Haut entblößte. Er wandte sich ab. “Fangen wir die Mädchen ein.”
Es war ein kalter Abend. Frisch gefallener Schnee knirschte unter zwei Dutzend Stiefeln. Die Gegend, in der das Alma-Benjamin-Heim vor hundert Jahren gebaut worden war, bestand aus schönen alten Häusern. Die Aktivitäten der Mädchen des Heims waren von den Nachbarn nicht immer begrüßt worden. Aber inzwischen hatte man sich an sie gewöhnt. Chloe hoffte, dass sie an diesem Abend etwas Zuneigung gewinnen konnten.
Im ersten Haus standen geschmackvolle Kränze mit roten Bändern in jedem Fenster, die von sanftem goldfarbenen Licht angestrahlt wurden. Auf jeder Fensterbank brannte eine dünne elegante Kerze.
“Dies ist ein Haus vom Typ ‘Stille Nacht’”, meinte Egan.
“Das ist ein langweiliges Lied. Ich verstehe es überhaupt nicht”, sagte eines der Mädchen.
Egan ließ sich von diesem Einwand nicht abschrecken. Er summte einen Ton. “Alle bereit? Dann fangen wir an.”
Egan begann das Lied in einem klaren Bariton. Chloe fiel ein, und eines nach dem anderen sangen auch die Mädchen mit. Schließlich trugen ihre Stimmen das Lied allein.
“Kleine Engel”,
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