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Geständnis unterm Mistelzweig

Geständnis unterm Mistelzweig

Titel: Geständnis unterm Mistelzweig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emilie Richards
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Eilauftrag für ein Puppenhaus genäht hatten. Inzwischen hatte es sich wie ganz selbstverständlich ergeben, dass sie sich mit der ganzen Familie duzte.
    Wenn Chloe auch nur die geringste Spur von Mitleid für sie bei Egans Familie entdeckt hätte, wäre ihr dies alles sehr peinlich gewesen. Aber es gab keinerlei Hinweise darauf, dass jemand nur deshalb seine Zeit mit ihr verbringen wollte, weil sie keine eigene Familie hatte. Obwohl eine leise Stimme in ihr immer noch nach dem Warum fragte, begann Chloe zu glauben, dass die Antwort ganz einfach war. Die O’Briens mochten sie. Sie füllte eine Lücke in ihrer Familie aus, die schon immer bestanden hatte. Sie war die Schwester, die Egans Brüder nie gehabt hatten, die Tochter, nach der Dottie -- und vermutlich auch Dick -- sich immer gesehnt hatte. Sie stand zur Verfügung, um an allen ihren kleinen Weihnachtsgeheimnissen und an ihren Traditionen teilzunehmen, und dafür waren sie dankbar.
    Das war komisch, aber -- nein, es war überhaupt nicht komisch. Denn die ganze Aufmerksamkeit, die liebevolle Wärme der Familie O’Brien, von der sie ein Teil wurde, begann ihr sehr viel zu bedeuten. Es war nicht komisch, es war wunderbar, eine Erfahrung, die sie sehr schätzte.
    Dann war da natürlich noch Egan, der Mann mit den grünen Augen und den breiten Schultern, die so viel auf sich nehmen konnten. Egan hatte den vergangenen Samstagnachmittag nicht mit Chloe verbringen können, weil er den Weihnachtsmann in der Kinderabteilung eines Krankenhauses spielte. Durch sorgfältige Prüfung seiner Baurechnungen hatte sich Chloe vergewissert, dass er keinen Cent an seiner Arbeit für das Heim verdienen würde.
    Chloe saß auf der obersten Stufe der Treppe zum Heim und streckte die Hand aus, um die lange Papierkette zu ergreifen, mit der Roxanne das Treppengeländer schmücken wollte. Sie versuchte, Egan aus ihren Gedanken zu verbannen. Aber wie immer war das fast unmöglich.
    Roxanne warf ihr die Papierkette zu. Der Umstand, dass sie Chloe bemerkt hatte, war fast so erstaunlich wie die Kette selbst. Chloe war überzeugt, dass Roxanne wusste, wie nahe Weihnachten war. Es war ein ermutigendes Zeichen, dass Roxanne sich veranlasst sah, etwas wegen des Festes zu tun. Die Aufgabe, die sie übernommen hatte, war dem jetzigen Stand ihrer gefühlsmäßigen Entwicklung angemessen, sie war beruhigend, einfach und bestand aus Wiederholungen.
    “Meine Schwester und ich haben früher eine solche Kette gemacht”, sagte Roxanne. “Wir wickelten sie um einen Baum vor unserer Wohnung, um den Baum, immer rundherum.” Sie machte langsame kreisende Bewegungen mit dem Finger.
    Chloe vergaß fast zu atmen. Sie zwang sich, in ganz beiläufigem Ton zu reden. “Du vermisst deine Schwester?”
    “Besonders Weihnachten.” Roxanne lächelte bedrückt.
    Es war das erste Lächeln, überhaupt der erste Ausdruck einer Gefühlsregung, den Chloe jemals im Gesicht des Mädchens gesehen hatte. Sie wollte sie umarmen und vor Freude jubilieren. Sie wollte weinen.
    “Es ist sehr schwer, jemand zu verlieren, den man liebt”, sagte Chloe.
    “Woher weißt du das?” Roxanne fragte das so, als sei sie wirklich an einer Antwort interessiert. Eine Bindung bahnte sich an, eine sehr zarte, zaghafte Bindung.
    “Ich habe meine Eltern verloren, als ich sieben war.”
    “Tatsächlich?”
    “Sehr lange Zeit wollte ich nichts mehr fühlen.”
    “Meine Eltern leben noch.”
    “Ich weiß.”
    “Sie haben mir wehgetan. Und Mary Jane.”
    “Auch das weiß ich.”
    “Woher?”
    Chloe suchte nach einer Antwort. “Niemand hat ihnen jemals beigebracht, wie man gute Eltern wird, Roxanne. Jemand muss auch ihnen sehr wehgetan haben, als sie noch Kinder waren.”
    “Ich hasse sie.”
    “Ja, ich weiß.”
    “Das ist böse, nicht wahr?”
    “Nein, das glaube ich nicht. Gefühle sind niemals böse.”
    “Ich tue nie Menschen weh, auch wenn ich sie hasse.”
    “Dann bist du erwachsener, als deine Eltern es waren.”
    “Ich möchte sie nie wiedersehen.”
    “Das brauchst du auch nicht. Niemals.”
    “Bist du sicher?”
    “Völlig.”
    Roxanne senkte den Blick und spielte mit der Kette. “Wirklich?”
    “Ja, wirklich. Wenn du willst, kannst du mich das jeden Tag fragen, und ich werde dir immer dieselbe Antwort geben.”
    “Mary Janes Lieblingsfarbe war Rot. Ich habe in dieser Kette eine Menge Rot verwendet.”
    “Du könntest jedes Jahr zu Weihnachten eine Kette für Mary Jane machen, als Erinnerung an

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