Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
nur zwei Dirigenten, Leonard Bernstein und Wolfgang
Sawallisch, seien bisher in den Vatikan eingeladen worden. Es war dann auch tatsächlich nichts mehr aus Rom zu hören, und ich schrieb die Sache ab. 1993,
als ich schon in Leipzig war, ging in der Hörfunkdirektion in München ein Anruf aus Rom ein. Gottes Mühlen malen eben langsam. Ein gewisser Herr Schwemmer
ließ mitteilen, dass am 16. Oktober das Konzert stattfinden könne. Mein unseliger Nachfolger kannte natürlich die Vorgeschichte nicht und hatte keine
Ahnung, um was für ein prestigeträchtiges Projekt es dabei ging. Er ließ den Termin prüfen und dann ausrichten, das ginge leider nicht, da spiele das
Orchester bereits in Donaueschingen. Monsignore Schwemmer muss aus allen Wolken gefallen sein. Das konnte nicht wahr sein. Er tobte und wollte wissen, wo
der Reiter sei. Als seine Leute mich in Leipzig ausfindig gemacht hatten, rief er mich an. »Dr. Reiter, stellen Sie sich vor, ich habe zwei Jahre daran
gearbeitet, und jetzt haben wir einen Anlass gefunden: Fünfzehn Jahre Pontifikat von Johannes Paul II. und gleichzeitig 750. Todestag der Heiligen Hedwig
von Polen! Und jetzt sagen die ab! Wie soll ich das meinem Chef erklären?« Ich beruhigte ihn und bat, in zehn Minuten zurückrufen zu dürfen. Diese zehn
Minuten brauchte ich, um mit Karola Sommerey, meiner Hörfunkdirektorin, zu klären, dass unser MDR-Orchester bereitstand. Ich rief Schwemmerzurück und erklärte ihm, wie schön es doch wäre, wenn ein Orchester aus dem wiedervereinigten Osten Deutschlands vor dem Papst spielen würde, wo dieser doch ebenfalls aus dem Osten komme und sich immer vehement für die Freiheit der ehemals kommunistischen Länder eingesetzt habe. Neben unserem Symphonieorchester konnte ich ihm den MDR-Chor anbieten, so hieß inzwischen der berühmte und umworbene Leipziger Rundfunkchor. Schwemmer verstand sofort. Wir waren uns einig. Als man in München nach ein paar Tagen den Schaden begriff und zurückrudern wollte, war alles schon in trockenen Tüchern.
Meine Heiden fuhren also zum Papst. In der Sala Nervi, der riesigen 1971 eingeweihten Audienzhalle des Vatikans, sangen und spielten Chor und Symphonieorchester des MDR Beethoven, Bruckner und Penderecki vor sechseinhalbtausend Gästen, darunter fast das gesamte Kardinalskollegium. Das Konzert wurde in neun Länder übertragen und von rund acht Millionen Zuschauern gesehen. Wenn man bedenkt, dass es den übertragenden Sender zwei Jahre vorher noch gar nicht gegeben hatte, schon ein kleines Hedwig-Wunder. Johannes Paul II. ging nach dem Konzert auf die Bühne und drückte jedem der Musiker in den ersten Reihen einzeln die Hand. Es war höchst eindrucksvoll, und ich glaube, es wäre kein Problem gewesen, im Anschluss daran das ganze Orchester in der Fontana di Trevi taufen zu lassen.
Und dann ereignete sich noch etwas. Reinhard Krug, der Leiter meiner Intendanz, war zwei Tage vor unserer Rom-Reise zu mir gekommen und sagte, er müsse sich leider entschuldigen, er könne nicht mitkommen. Er habe ein Riesenproblem mit seiner Schulter. Trotz Spritzen und Tabletten könne er seinen rechten Arm nicht bewegen, die Schmerzen seien so stark, dass er nicht einmal sein Hemd selbst anziehen könne. Ich machte ihm klar,was er da versäumen würde, und riet ihm, sich das Hemd von jemand anders anziehen zu lassen. Er tat es und saß das ganze Konzert über mit verkniffenem Gesicht in unserer Reihe. Und jetzt kommt es: Der Papst ging an uns vorbei, gab jedem die Hand und sagte ein paar freundliche Worte. Als er zu Herrn Krug kam, reichte er auch ihm die rechte Hand – und legte seine Linke väterlich auf die rechte Krug’sche Schulter. Krug ist zu jedem Schwur bereit: im selben Moment waren die Schmerzen weg. Bei einem Gläubigen hätte man jetzt sagen können, gut, dein Glaube hat dir geholfen. Aber Krug war ja kein Gläubiger, sondern ein gottloser Ossi. Er blieb schmerzfrei. Wie gibt es denn das? An der Tatsache selbst ist nichts zu deuteln. Ich war Augenzeuge. Ein Wunder?
Das Konzert war ein großer Erfolg. Es hat dem Papst so gut gefallen, dass er uns noch zwei Mal (!) nach Rom eingeladen hat. Bei unserem letzten Besuch war er schon so krank, dass er im Rollstuhl hereingefahren werden musste. Es gibt ein Foto, auf dem wir zwei Rollstuhlfahrer uns die Hand drücken. Zwischen uns der damalige Kardinal Ratzinger und spätere Papst Benedikt XVI. Reiner Haseloff, inzwischen Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt, der
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