Gestrandet: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
können. Dabei fiel ihm auf, wie wenig sich der Schauspieler verändert hatte. Mehrere Jahre mussten vergangen sein, aber sein Haar war noch genauso dunkel und voll wie damals, sein Gesicht kaum älter als auf diesem Foto. Erik blickte auf, um nach Veränderungen zu suchen, aber Dogas hatte sich so tief über das Bild gebeugt, dass sein Gesicht nicht zu sehen war. Seine Hände zitterten, Schweiß bildete sich auf seinen Schläfen, sein Atem ging stoßweise.
Mamma Carlotta stellte erschrocken die Espressokanne zurück und setzte sich zu Severin Dogas. Es fehlte nicht viel, und sie hätte nach seiner Hand gegriffen, um sie tröstend zu streicheln. »Ich weiß, wie Sie sich jetzt fühlen«, sagte sie. »Mir ging es heute Nachmittag genauso, als ich das Fotoalbum durchgeblättert habe. Meine verstorbene Tochter auf den Bildern fröhlich lachen zu sehen, tat weh. Schrecklich weh.«
Die Luft war wie Seide, weich und kostbar, wie sie auf Sylt an Sommerabenden werden konnte. Dann legte sich der Wind manchmal mit der Dämmerung schlafen, raute die seidige Luft nicht mehr auf, ließ sie durch die Nacht schweben wie unsichtbare Spinnfäden. Mamma Carlotta zog leise die Tür ins Schloss und atmete tief durch. Köstlich, diese milde Abendluft, die den langen sonnigen Tag zu einem klaren Abschluss brachte! Sie wusste, dass sie diese Luft vermissen würde in den schwülen, heißen Nächten, die sich in Umbrien über die Dörfer stülpten.
Carolin und Felix hatten sich in einen Film mit Severin Dogas vertieft und das Angebot ihrer Großmutter, sie auf einem Spaziergang zu begleiten, abgelehnt. Mamma Carlotta war es recht. Es würde ihr guttun, eine Weile mit ihren Gedanken allein zu sein. Und Carolin würde es guttun, ein paar Stunden nicht an den Roman zu denken, den Gero Fürst schrieb. Carlotta wagte es noch nicht, ihre Enkelin in ihre Gedanken einzuweihen. Es war noch zu früh, vorher musste sie mit jemandem reden. Aber mit wem? Mamma Carlotta brauchte nicht lange zu überlegen. Dafür kam nur einer infrage, der so wenig vertrauenswürdig war, dass sie ihn ohne weiteres ins Vertrauen ziehen konnte. Niemand würde etwas davon erfahren.
Sie entschloss sich, zu Fuß zu gehen, um frei zu sein von Verkehrsregeln und den dazugehörigen Vorsichtsmaßnahmen. Als Mitglied des rollenden Straßenverkehrs war sie gezwungen, in der Gegenwart zu bleiben, als Fußgängerin konnte sie in die Vergangenheit blicken, ohne sich und andere zu gefährden. Sie konnte mit Dino Zwiesprache halten, mit Lucia reden und auch mit Donata Zöllner. Die Enttäuschung, die sie Mamma Carlotta zugefügt hatte, machte allmählich wieder der Trauer um die Freundin Platz, die Donata Zöllner nicht hatte werden können.
Mit großen Schritten überquerte Carlotta die Westerlandstraße und wanderte das Horsatal entlang. Sie hatte die bequeme Hose mit dem gummierten Bund angezogen, die weichen Turnschuhe und die Strickjacke, die sie in Umbrien nur während der Wintermonate trug, ohne die sie im Sylter Hochsommer aber noch keinen einzigen Tag ausgekommen war.
Als sie auf die Dünenstraße stieß, wandte sie sich nach rechts und ging über den Parkplatz, von dem noch die Hitze aufstieg, die der Asphalt gespeichert hatte. An der Surfschule gelangte sie über die lange Rampe zum Strand, ging zur Wasserkante und sah aufs Meer hinaus, das trotz der Dunkelheit sichtbar geblieben war. Behäbig rollte es sich an diesem Abend auf den Sand, sah beinahe so aus, als wollte es von seinem steten Rhythmus abweichen, in dem sich die Wellen bildeten, anstiegen, zusammenbrachen, ausliefen und zurückströmten. Aber das Meer blieb bei seinem Rhythmus. Gott sei Dank!
An der Seestraße stieg sie die Holztreppe empor, warf einen Blick in Fietjes verwaistes Strandwärterhäuschen und machte sich dann auf den Weg zu Käptens Kajüte. Das Abendgeschäft war gelaufen. Als Mamma Carlotta die Tür aufstieß, fanden sich nur zwei Nachzügler dort, die sich mit Pommes Mayo über den Abend retten wollten.
Toves griesgrämiges Gesicht knüllte sich in einem Lächeln zusammen. »Wein aus Montepulciano?«
Mamma Carlotta nickte und schob sich auf einen Barhocker. »Ist Fietje nicht da?«
Tove schüttelte den Kopf. »Den habe ich rausgeworfen. In Käptens Kajüte bekommt keiner ein Jever, der behauptet, Sie hätten was mit einem Mord zu tun!«
Wenn Tove empört war, konnte man die Geschichte glauben, die jeder längst Seemannsgarn nannte: dass seinerzeit sein Schiff vor Gibraltar gesunken und er
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