Gestrandet - Harvey, C: Gestrandet - Winter Song
seine Hörfrequenz instinktiv einige Stufen höher.
Sofort wurde das bisher chaotisch klingende Heulen des Trolls strukturierter, und er konnte das Echo hören, mit dem die Schallwellen von seiner Brust zurückgeworfen wurden.
Sonar, meldete sich Loki zu Wort. Eine ideale Orientierungshilfe bei Schneestürmen. Die perfekte Anpassung an die hiesigen Verhältnisse.
»Nenn mir Wörter aus dem zentralasiatischen Sprachraum für Freund«, murmelte Karl. Er registrierte, dass Bera mit Teitur in einem sicheren Abstand hinter ihm wartete, aber nahe genug, um dem Troll den Fluchtweg abzuschneiden, sollte er es auf einen Versuch ankommen lassen. Vom Ausgang des schmalen Kamins abgesehen, steckte die Kreatur zwischen den senkrechten Felswänden in der Falle.
Karl glitt aus dem Sattel. Unter seinem Gürtel steckte ein Schwert, dessen Klinge zwar länger als die eines Messers war, das aber eigentlich kaum die Bezeichnung Schwert verdiente. Doch statt es zu ziehen, streckte er die geöffneten Hände aus. »Komm schon!«, drängte er Loki.
Loki nannte ihm ein Wort, dann ein zweites, drittes und viertes, im Abstand von jeweils ein bis zwei Sekunden. Karl wiederholte die Wörter der Reihe nach langsam und gewissenhaft, wobei er ebenfalls jedes Mal eine kurze Pause einlegte, um dem Troll die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben. Er konnte seine Stimmlage nicht über die hörbare Frequenz hinaus erhöhen und deshalb nur hoffen, dass der Troll ihn trotzdem verstehen würde.
Statt zu antworten, stürzte sich der Troll auf ihn, die Finger gekrümmt, die Fänge gefletscht.
Es gelang Karl, eine Hand des Trolls, der seine Klauen wie eine Katze ausgefahren hatte, zu packen, wobei er fast unbewusst registrierte, dass der Atem der haarigen Kreatur süßlich und ein wenig nach Minze roch.
Der Troll schlug mit der freien Hand nach ihm, und obwohl Karl den Kopf zur Seite riss, streiften die Klauen seine Wange. Fluchend ließ er das Handgelenk des Trolls los und sprang zurück.
Sein Gegner ließ die Arme wie Windmühlenflügel kreisen und rückte gleichzeitig vor, sodass Karl gezwungen war, weiter zurückzuweichen. Der Troll setzte kreischend, zischend und fauchend weiter nach.
Während er ihn vorsichtig auf Abstand hielt, ging Karl im Kopf das Vokabular an Kirgisisch, Tartarisch, Uigu risch und allen anderen zentralasiatischen Sprachen durch, das Loki ihm lieferte. Keins der Wörter für »Freund« löste irgendeine Reaktion bei dem Troll aus. Vielleicht ist er so aufgedreht, dass er gar nicht zuhört, dachte Karl.
»Zieh dein Schwert!«, schrie Bera. »Um Thors willen, Karl, lass dich nicht umbringen! Erstich das verdammte Biest, wenn es sein muss! Wir werden schon ein weiteres Exemplar für deine Spielchen finden!«
Der Troll bedrängte ihn immer weiter, und so zog Karl widerstrebend sein Schwert. Er richtete es auf die Kehle des Trolls, und einen fürchterlichen Moment glaubte er fast, dass die Kreatur einfach in die Klinge hineinlaufen würde.
Plötzlich blieb der Troll stehen.
»Freund«, wiederholte Karl in etlichen anderen Sprachen, unter anderen auf Kasachisch, Turkmenisch und Usbekisch, sogar auf Russisch und Mongolisch. Als er das Wort auf Kasachisch aussprach, meinte er, eine kaum wahrnehmbare emotionale Reaktion bei dem Troll zu entdecken, als wäre dieser überrascht, aber gleichzeitig bemüht, sich nichts davon anmerken zu lassen. Die haarige Kreatur verharrte weiter reglos auf der Stelle. Nachdem Karl alle Sprachen durchgegangen war, versuchte er es erneut auf Kasachisch, überzeugt davon, dass der Troll ihn aufmerksam beobachtete. Angesichts des graubraunen Fells, mit dem das Wesen bis auf die Augenpartie von Kopf bis Fuß bedeckt war, ließ sich das nur schwer beurteilen.
»Freund«, wiederholte Karl ein drittes Mal und ließ das Schwert dabei halb sinken.
Der Troll erwiderte irgendetwas, genauso langsam wie Karl und so deutlich, wie es die Reißzähne in seinem Maul zuließen.
Kein Freund, übersetzte Loki die Laute für Karl.
»Freund«, sagte Karl beharrlich. Auf geht’s, dachte er mit hämmerndem Herzen und trockenem Mund, vielleicht wird das mein Ende. Doch es schien die einzige Möglichkeit zu sein, die ihm blieb. Vor Anspannung am ganzen Körper zitternd, atmete er tief ein, ließ das Schwert weiter sinken und legte es schließlich behutsam, ohne den Blickkontakt mit dem Troll zu unterbrechen, auf den Boden.
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Ragnars Männer hatten Heimurpal erreicht – das Dach der Welt. Die Berge waren mit
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